Schlussakt
Wiegetritt,
den Blick nach vorne gerichtet, den Mund aufgerissen. Heute brannten die
Oberschenkel schon vor der ersten Linkskurve. Auf Höhe der Molkenkur spuckte
mir ein alter Mercedes sein Gift in die Lunge, als er aufheulend vorbeischoss.
Ich merkte mir sein Kennzeichen, er kam aus Niedersachsen, aber einen Kilometer
weiter hatte ich es vergessen. Die Zwischenzeiten waren niederschmetternd. Es
musste am Essen liegen oder an zu viel Kaffee, an den äußeren Bedingungen lag
es nicht, die waren perfekt. Über den Wald spannte sich ein hellblaues Segel
aus Kälte. Die Luft roch frisch und würzig, dem Mercedesfahrer war längst verziehen.
Nach der Abzweigung am Arboretum kam das härteste Stück. Der
Kohlhöferweg, ein schnurgerader Weg, der den Himmel anpeilt. Weil er so gerade
ist, unterschätzt man ihn. Aber nur am Anfang. Man geht aus dem Sattel,
erarbeitet sich jeden Tritt, fährt Schlangenlinien. Sieht im Geiste die Profis
vorbeiziehen. Leichtfüßig, ein Lächeln auf den Lippen, Chemie im Blut. Überholt
mich nur, ich schalte trotzdem nicht in den kleinsten Gang! Erst die letzten
500 Meter auf dem Chaisenweg brachten Erleichterung – zu spät für eine gute
Endzeit. 24 Minuten stoppte ich auf der Kuppe; damit lag ich zweieinhalb
Minuten über meiner Bestleistung, auch wenn die aus Jahren stammte, als ich
noch mehr Zeit zum Trainieren hatte. 150 Sekunden, das war eine Menge. Der
Tribut an Alter und ungünstige Voraussetzungen.
Aber ich fühlte mich wieder besser. Ich hatte schließlich
noch einiges vor an diesem Sonntag, Zeugenbefragungen standen an,
Nachforschungen in der Ölmühle und das Gespräch mit Bernd Nagel. Langsam
fuhr ich zur Endstation der Bergbahn, stellte mein Rad am Aussichtspunkt hinter
dem Königstuhlhotel ab und ließ den Blick schweifen. Im Winter hat man öfter
Glück mit der Fernsicht. Die Rheinebene lag vor mir wie ein aufgeschlagenes
Buch, da konnten auch die aufziehenden Wolken über dem Pfälzer Wald nichts
ändern. Im Nordwesten wucherte die bizarr verschlungene Anlage der BASF übers
Land, davor versuchte der Mannheimer Fernmeldeturm den Himmel anzupieksen.
Weiter südlich drohten die Meiler von Philippsburg, sogar der Speyerer Dom war
zu sehen. Überall glitzerte und funkelte es: das Spiel der Wintersonnenstrahlen
auf den beiden Flüssen, die sich in Mannheim trafen, auf den Glas- und
Gewächshäusern ringsum, auf Fahrzeugen, Dächern, Fenstern. Zu meinen Füßen
leuchtete der Wald in dunklen Farben, in Grün, Violett und Braun, nur die
gerodete Fläche am Hang unterhalb des Hotels wirkte abgestorben. Hier starteten
im Sommer Paraglider zu ihren Rundflügen über die Region.
Ich zog mir Jacke, Mütze und Schal, die ich zuvor in meinen
Rucksack gestopft hatte, wieder an und setzte mich auf einen Felsbrocken.
Schade, dass ich keinen warmen Tee mitgenommen hatte. Den hätte ich gut
gebrauchen können.
Als eine junge Frau mit ihrem Freund die Aussichtsplattform
betrat, musste ich lachen. Mir war eingefallen, dass ich während der gesamten
Fahrt keinen Gedanken an Annette Nierzwa verschwendet hatte. Dafür hatte mir
Covets Frühstücksbekanntschaft mehrfach vom Wegesrand aus zugelächelt.
Verdammt, ich hätte gerne gewusst, wer diese Cordula war. Auch wenn sie nichts
mit dem aktuellen Fall zu tun hatte. Oder gerade deswegen.
Plötzlich klingelte mein Handy. Sollte ich noch Zweifel an
seiner Funktionstüchtigkeit nach meinem gestrigen Sturz gehegt haben, so waren
sie nun beseitigt. Ich warf dem Pärchen einen entschuldigenden Blick zu und
meldete mich.
Ein lautes Dröhnen antwortete. Schon komisch, so ein
plärrendes Motorengeräusch, wenn man gerade in die Stille des Königstuhls
versunken ist. Weit unter mir, Kilometer entfernt, durchschnitt die A 5 die
Ebene. Die passende akustische Kulisse dazu lieferte der Anruf.
»Hallo!«, schrie mir jemand ins Ohr.
»Hallo!«, schrie ich zurück, sprang auf und eilte die
Himmelsleiter hinunter, weil mir diese Schreierei unter Zeugen peinlich war.
»Hallo, Max!«
»Hallo, Fatty!«
»Alles klar, alter Junge?«
»Seit wann stellst du dich zum Telefonieren auf den
Mittelstreifen der Autobahn?«
»Was?«
»Seit wann stellst du dich zum Telefonieren auf den
Mittelstreifen der Autobahn?«, brüllte ich.
»Verstehe ich nicht.«
»Ich verstehe dich auch
nicht. Der Verkehr ist brutal laut hier oben.« Ich hatte etwa 50 Stufen der bis
zum Schloss führenden Himmelsleiter zurückgelegt, um
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