Schlussakt
Argumente einfach
umdrehte. Es stimme, sagte er, dass gerade der Opernbetrieb unter dem
Widerstreit privater, künstlerischer und ökonomischer Interessen leide, bei
diesem Widerstreit aber handle es sich um ein allgemeingesellschaftliches
Problem. In jedem Karnevalsverein, jedem Kegelclub sei das heutzutage so. »Was
wir hier erleben, ist die Globalisierung im Kleinformat«, sagte der Mann und
setzte sich.
Das Protestgeheul, das sich daraufhin erhob, war
beeindruckend. Nicht sofort natürlich, denn verstanden hatte kaum einer die
Ausführungen des Mannes. Aber sie waren am nächsten Tag auszugsweise in den Neckar-Nachrichten abgedruckt, man konnte sie wieder und wieder lesen, konnte die Wörter
›Karnevalsverein‹ und ›Kegelclub‹ unterstreichen und sich persönlich getroffen
fühlen. Denn welcher Heidelberger war nicht in einem solchen Verein? Außerdem
hatte der Wissenschaftler behauptet, seine Feststellung gelte für alle Bereiche
des öffentlichen Lebens, also auch für Sportclubs, Mittelstandsvereinigungen
und Presbyterien. Für Universitäten und Parteien sowieso. Eben für alle. Erneut
hagelte es Leserbriefe, es gab Stellungnahmen in Fernsehen und Rundfunk,
Erklärungen diverser Vorstände, und jeder von ihnen stimmte der vernichtenden
Analyse ›zu 99 Prozent‹ zu, lediglich die eigene Gruppe, Kaste oder
Interessengemeinschaft ausnehmend. Insgesamt konstatierte man den allgemeinen
Niedergang der öffentlichen Moral, gegen den man sich hilflos und verzweifelt
zu stemmen habe – und suchte händeringend nach Nahaufnahmen der toten,
halbnackten Annette Nierzwa. Bevorzugt von hinten.
Hauptkommissar Fischer hatte recht gehabt. Manches konnte man
sich einfach nicht vorstellen.
Der Mittwoch verstrich, es
nahte der Donnerstag. Und mit ihm nahten die nochmals gesteigerten Auflagen,
die brüllenden Headlines, die Flut der Ausrufezeichen: ›Barth-Hufelang
pädophil!‹ – ›So pervers sind unsere Promis!!‹ – ›Der Dicke und die nackten
Jungs‹. Waren die Zeitungen schwerer geworden, oder wirkten sie durch die
Schlagzeilen so? Und es ging ja nicht nur um die Presse. Auch im Radio befand
man, ein Mord sei ekelhaft, aber Schmuddellektüre unterm Bett ebenfalls. Oder
erst recht. Die Tagesschau brachte ein Experteninterview, das ZDF die
Ergebnisse einer Blitzumfrage. Wozu genau, habe ich vergessen, mit dem Mord
selbst hatte es jedenfalls nichts zu tun. Wer sich in diesen Tagen nicht konsequent
die Mütze über Augen und Ohren zog, sah sich einem Trommelfeuer von Meinungen,
Mahnungen und Mutmaßungen ausgesetzt:
›Unsere Werte gehen den Bach runter.‹
›Kein Wunder, wenn sie jetzt schon in der Oper nackt
rumlaufen.‹
›Es könnte Ihr Kind sein.‹
›Wohin soll das führen?‹
›In Wirklichkeit ist es noch viel schlimmer.‹
›Ich wandere aus.‹
Selbst im Englischen Jäger beherrschte dieses Thema
kurzzeitig alles. Tischfußball-Kurt fragte mich, ob ich ihm Barth-Hufelangs
Heftchen besorgen könnte, nur aus Interesse natürlich, um mitreden zu können.
Am Stammtisch machten sie mehrfach Handbewegungen, die mich an die Tätigkeit
einer Guillotine erinnerten, und einer unserer Intellektuellen zitierte aus dem
Feuilleton einer überregionalen Zeitung. Dort wurde der Mord an Barth-Hufelang
zum Menetekel einer todgeweihten Gesellschaft erkoren und das verschwundene
Mordwerkzeug zum richtenden Schwert. Der Autor hatte eben erst über die
zeitgenössische Gültigkeit alttestamentarischer Maximen promoviert, Marias
Kneipe hallte wider von unserem Gelächter, am Tag darauf aber versprach ein
Heidelberger Familienvater aus besten Kreisen dem Mörder Barth-Hufelangs 10.000
Euro, wenn er sich offenbarte.
War es das?
War es natürlich nicht. Zwei Wochen gingen ins Land, längst
waren die Morde und ihre außergewöhnlichen Begleitumstände auf die hinteren
Seiten der Zeitungen gewandert, da goss der Mannheimer Abendkurier , das
Pendant zu den Neckar-Nachrichten und diesen in ewiger Feindschaft
verbunden, neues Öl ins Feuer. Er veröffentlichte ein anonymes Schreiben, das
Barth-Hufelang posthum in Schutz nahm. Der Brief war im Original abgedruckt,
und nach der Lektüre musste man sich fragen, ob ein derart grauenhaftes Deutsch
nicht strafbarer war als Pinkelbilder von Kleinkindern. Die ›Befölkerung‹ wurde
aufgerufen, sich zu ›seinen‹, nicht etwa ›ihren‹, Perversionen zu bekennen, das
sei besser, als Waffen zu bauen oder die Natur zu
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