Schlussakt
schänden. ›Schenden‹ hieß es
im Original, dafür schrieben sie ›Perversionen‹ richtig. Die wahren Abartigen
säßen in der Politik und im Management, und überhaupt sei jeder, der behaupte,
eine weiße Weste zu besitzen, ein ›Häuchler‹. Wie sie ›Management‹
buchstabierten, verkneife ich mir. Gezeichnet war das Ganze mit ›Perverse
Proleten‹ und einer schwarzen Maske.
Daraufhin brandete der Sturm der Entrüstung wieder auf. Dass
die Redaktion des Abendkuriers unter empörten Anrufen und Leserbriefen
schier zusammenbrach und den mutigen Legasthenikern wahlweise Haft oder
Sterilisation angedroht wurde, war das eine. Das andere war, dass sich an der
schwelenden Rivalität zwischen dem Abendkurier und den Neckar-Nachrichten ein regelrechter Lokalkrieg entzündete. Am Tag nach Abdruck der
Solidaritätsadresse rechnete der Chefredakteur des Heidelberger Blattes
höchstpersönlich mit dem Mannheimer Konkurrenten ab. Welch ein Pharisäertum,
schrieb er: sich wochenlang in den Chor der Empörten einzureihen, um am Ende
derartigem Gesindel eine Plattform zu geben. Dahinter stecke bloß
Marktgeilheit, das Schielen nach der Auflage, und überhaupt sei Barth-Hufelang
als Heidelberger Einzelfall anzusehen, während die Stadt Mannheim offenbar
Perverse und Proleten en masse produziere. Im Windschatten dieses Artikels
kündigten die letzten Heidelberger Leser des Abendkuriers ihr
Abonnement, sagte die Pfaffengrunder Prinzengarde eine Einladung nach Käfertal
ab, boykottierten Heidelberger Klassikfreunde das Mannheimer Nationaltheater.
Gerüchte über den hohen Homosexuellenanteil im dortigen Orchester machten die
Runde, auf dem Wochenmarkt wurde ›Rhein-Neckar‹ als Herkunftsbezeichnung von
Lauch und Rosenkohl gestrichen und durch ›echt Heidelberg‹ ersetzt.
Der Mannheimer Konter ließ nicht lange auf sich warten. Der
Oberbürgermeister legte angesichts der ›unerträglichen Stimmungsmache‹ jegliche
Zusammenarbeit mit der Nachbarstadt auf Eis, der Abendkurier veröffentlichte von nun an täglich seine Abonnementsstatistik (Tendenz: stark
steigend), und die Besucher des Nationaltheaters beglückwünschten mittels einer
›offenen Erklärung‹ die Heidelberger Musikliebhaber zu ihrem heroischen
Entschluss, nur noch die eigene zweitklassige Oper zu besuchen. Mitten in
diesen Auseinandersetzungen machte jemand publik, dass das Schreiben in
Dossenheim abgestempelt worden war. Damit, frohlockte der Abendkurier ,
fielen die Perversen Proleten ja wohl unter die Verantwortung
Heidelbergs.
Abgesehen von diesem Geplänkel hatte das Outing der Proleten auf andere Gruppen eine geradezu befreiende Auswirkung. In gewissen Kreisen
galt es plötzlich als schick, seine Perversitäten zu pflegen. Initiativen
schossen aus dem Boden, es gab Gesprächskreise und rührende Bekennerabende,
Szenetreffs luden zu Talkrunden: ›Du und ich – pervers?‹ oder ›Mut zum
Masochismus‹. In der Folge entstand sogar ein Kammerorchester mit dem schönen
Namen AbArt , das aus Instrumentalisten mit besonderen sexuellen
Neigungen bestand und sich auf Werke schwuler Künstler spezialisierte. Nach
einem Jahr ging es wieder ein.
Aber all dies hatte mit dem Schneeball, der die Lawine
ausgelöst hatte, mit den bei Barth-Hufelang gefundenen Bildchen nämlich, kaum
noch etwas zu tun. Irgendwann beruhigten sich die Gemüter, wurden die Rollläden
energisch zugezogen, kochte jeder zu Hause sein eigenes Süppchen. Die einen
feierten einen wichtigen Schritt in Richtung sexueller Befreiung, die anderen sahen
den Weltuntergang herandämmern, je nachdem. Die Leserbriefe begannen sich
wieder den zentralen Themen zu widmen: der Parkplatznot, der Überfremdung, den
Politikerdiäten.
Eine Person aber würde das vermaledeite Heft und den
vermaledeiten Dirigenten ihr Lebtag nicht vergessen, und das war meine
Auftraggeberin, Frau von Wonnegut. Noch am selben Dienstag wurde ihr die
Nachricht überbracht, dass ihr Idol, der Generalmusikdirektor Heidelbergs,
seine letzten Takte geschlagen hatte. Der Überbringer war ich. Von dem Fund
unter Barth-Hufelangs Matratze erzählte ich nichts. Daraufhin versetzte sie die
halbe Lokalredaktion der Neckar-Nachrichten in Aufruhr, bis man ihr
versprach, eine exklusive Todesanzeige für das Fördervereinsmitglied
Barth-Hufelang in die Donnerstagsausgabe zu setzen. Und dann geschah das
Wunder: Von den kleinen pornographischen Abseitigkeiten ihres Idols erfuhr Frau
Weitere Kostenlose Bücher