Schlussblende
Team zusammenwachsen. Und als er die sechs über die Fotokopie eines Polizeiberichts gebeugten Köpfe vor sich sah, dachte er, zumindest insoweit habe er offensichtlich den richtigen Riecher gehabt.
Bis jetzt hatte er noch keine Anzeichen für Animositäten beobachtet, im Gegenteil, ein paar von ihnen hatten bereits erste Kontakte untereinander geknüpft, ohne daß es zur Cliquenbildung gekommen wäre. Shaz schien, wenn ihn nicht alles täuschte, eher eine Einzelgängerin zu sein. Nicht, daß es Probleme mit den anderen gegeben hätte, sie lachte und diskutierte mit ihnen, achtete aber irgendwie immer auf einen Rest Distanz.
Tony ahnte bei Shaz eine geradezu besessene Erfolgsorientierung, die weit über den Ehrgeiz der anderen hinausging. Sie war morgens die erste und abends die letzte und ließ keine Gelegenheit aus, Tony, wenn sie ihn allein erwischte, ein paar vertiefende Fragen zum zuletzt durchgenommenen Stoff zu stellen. Seine einzige Sorge war, daß sie zu verschlossen war. Er mußte sie dazu bringen, aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen, damit sie ihre Anlagen zur guten Profilerin optimal nutzen konnte.
In diesem Moment sah sie zu ihm hoch, ohne Verlegenheit, ohne den linkischen Versuch, schnell wieder wegzugucken. Sie sah ihn einfach einen Augenblick lang an, dann wandte sie sich wieder ihrer Fotokopie zu. Ihn beschlich das eigenartige Gefühl, sie habe sekundenlang seinen Gedächtnisspeicher angezapft, die gewünschte Information gefunden und sich wieder ausgeklinkt. Ein wenig genervt sagte er: »Vier Fälle, bei denen es um sexuellen Mißbrauch durch Vergewaltigung geht. Dem Anschein nach von Einzeltätern begangen. Irgendwelche Anmerkungen dazu?«
Wie üblich machte Leon Jackson den Anfang. »Ich glaube, wir müssen das potentielle Verbindungsglied bei den Opfern suchen. Ich hab mal gelesen, daß die Opfer von Vergewaltigungen in aller Regel aus derselben Altersgruppe stammen wie der Täter. Bei unseren Fällen sind es Frauen Mitte Zwanzig, alle tragen kurzes, blondes Haar und sind sehr fitneßbewußt. Zwei sind Joggerinnen, eine spielt Hockey, und eine betreibt Rudersport. Lauter Sportarten, bei denen es einem zufälligen Spaziergänger kaum möglich gewesen wäre, sie zu beobachten, ohne daß das auffällt.«
»Danke, Leon. Noch weitere Anmerkungen?«
Simon, der in der Gruppe gern die Rolle des
advocatus diaboli
spielte, meldete sich zu Wort. Sein Glasgow-Akzent und seine Art, lauernd unter buschigen Augenbrauen nach oben zu starren, gaben seinen Beiträgen meistens eine ungewollt aggressive Note. »Kann natürlich sein, daß sportliche Frauen keine Scheu haben, sich allein an einsam gelegenen Orten aufzuhalten. Weil sie so selbstbewußt sind, daß sie glauben, ihnen könne nichts passieren. Aber egal wie, falls es sich um zwei, drei oder gar vier verschiedene Täter gehandelt hat, ist der Versuch, sie mit Hilfe eines Täterprofils zu überführen, von vornherein reine Zeitverschwendung.«
Shaz schüttelte den Kopf. »Es geht nicht nur um die Opfer«, sagte sie mit fester Stimme. »Ihren Aussagen nach hatte der Täter allen die Augen verbunden. Und alle wurden während der Tat durch Verbalsex erniedrigt. Das kann kein bloßer Zufall sein.«
»Ach komm, Shaz«, widersprach Simon, »wenn einer so ein lahmer Vogel ist, daß er Frauen vergewaltigen muß, dann muß es einen nicht wundern, wenn er sich während der Tat an seinem dreckigen Gerede aufgeilt. Und was die verbundenen Augen betrifft, da gibt’s keine Übereinstimmungen. Mal abgesehen vom ersten und dritten Opfer, denen wurde das eigene Stirnband über die Augen geschoben. Der zweiten hat der Täter das T-Shirt über den Kopf gezerrt und zugeknotet, und der vierten hat er Klebeband um den Kopf gewickelt. Eindeutige Abweichungen, wie?« Zum Zeichen, daß er’s nicht persönlich meinte, schickte er ein gutmütiges Grinsen hinterher.
Tony grinste mit. »Die passende Überleitung zu unserem nächsten Thema. Heute beschäftigen wir uns mit dem Unterschied zwischen Handschrift und MO . Ahnt jemand, wovon ich rede?«
Kay Hallam, die andere Frau in der Gruppe, hob zögernd die Hand. Als Tony nickte, strich sie sich mit einer fahrigen Bewegung das sandbraune Haar hinters Ohr – eine bei ihr zur Gewohnheit gewordene Geste, die viel über ihre Unsicherheit verriet. » MO ist das dynamische, die Handschrift das statische Element.«
»So könnte man’s ausdrücken«, sagte Tony, »aber es hört sich vielleicht ein bißchen zu technisch an.« Er
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