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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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Familie, die wahrscheinlich abgehört oder auf Drogen durchsucht wird, die unter Verdacht gerät.
    Wir mussten lernen, damit umzugehen. Das Leben musste weitergehen, und ich entwickelte Übung darin, mich mit neuen Schreckensnachrichten abzufinden. Damals stand für mich die Entscheidung für einen Beruf an. Eine Weile überlegte ich, Betriebswirtin zu werden, aber nach meinen Erfahrungen mit Mathe im Fachabijahr wusste ich, das ist nichts für mich. Ich wollte etwas Kommunikatives machen, mit Menschen arbeiten, und so bewarb ich mich nach dem Abitur um einen Studienplatz für ein FH-Studium, Soziale Arbeit. Ich bekam rasch Zusagen aus Fulda, Frankfurt und Darmstadt und entschied mich für Fulda. Das Studium machte mir Spaß, das Fach war die richtige Entscheidung gewesen, nur das Studentenleben hatte ich mir weniger verschult vorgestellt. Aber ich gehörte zu den Ersten, die den Bachelorstudiengang absolvierten, sodass von der berühmten studentischen Freiheit nicht viel übrig blieb. Neben den Hausarbeiten in den Semesterferien fand ich noch Zeit, in unserem alten Blumenlager, das wir mittlerweile verpachtet hatten, zu jobben.
    Wieder fand ich gute Freundinnen: Heidi, Susanne und ich begegneten uns am ersten Tag im Hörsaal, und wir fanden sofort Verbindungen, die unsere Freundschaft begründeten. Susanne kommt aus Aschaffenburg, wo ich auf dem Internat war. Heidi war älter als ich und hatte eine Tochter, die in Malaysia lebte, sie hatte selber viele Jahre dort verbracht. Sie fragte mich, ob ich Malaiin wäre. Nee, sagte ich, Türkin. Wir lachten beide, und da hat es gefunkt. Susanne hat rumänische Vorfahren, Heidi ist Deutschrussin. Wir sind alle drei an eine Mischung aus verschiedenen Kulturen in unserem Leben gewöhnt.
    Ich erzählte Heidi und Susanne in groben Zügen die Geschichte meiner Familie. Ab und zu sprachen wir darüber, aber es war kein großes Thema. Genau das hat mir gutgetan. Wir konzentrierten uns auf die Gegenwart, lernten zusammen, aßen zusammen, wir bauten Mist, und wir unterstützten einander. Für Klausuren lernten wir gemeinsam, und wenn eine hängenblieb oder ins Stolpern geriet, wurde sie mitgezogen. So haben wir es zusammen geschafft, eigentlich hätten wir ein gemeinsames Abschlusszeugnis bekommen müssen.
    Über meinen Vater sprach ich in dieser Zeit nur noch selten. Das war die beste Möglichkeit, mich gegen Vorurteile zu schützen. Es kam immer wieder zu der Situation, dass bei Festen oder in Gesellschaft irgendwer irgendwas über die Mordserie erzählte, das er gelesen oder gehört hatte, und plötzlich raunte wer: Das ist die mit dem Vater, der … aha, soso. Ich spürte das Misstrauen, dass da doch etwas faul sein müsse, man wird doch nicht einfach umgebracht wegen nichts. Ich wurde sensibel für die Töne, die mitschwangen, wenn jemand nach meinem Vater fragte. Wann immer ich sagte, er ist umgebracht worden, ähnelten sich die Reaktionen: Wie, von wem? Ach, das weißt du nicht? Ach so, er gehört zu den Opfern dieser Mordserie? Steckt da nicht die Drogenmafia dahinter? Und schon musste ich mich rechtfertigen, nein, er war ein guter Mensch, nein, das mit den Drogen stimmt nicht. Und oft spürte ich, dass man mir nicht ganz glaubte. Mit der Zeit bekam ich Übung, den Argwohn der Leute wahrzunehmen, ich erkannte ihn an ihrer Mimik, an kleinen Gesten, am Tonfall.
    Deshalb habe ich irgendwann nichts mehr davon erzählt. Ich empfand es nicht als notwendig, jedem Rechenschaft darüber zu geben, was meinem Vater widerfahren war. Niemand hatte ein Recht, über ihn zu urteilen. Wenn mich jemand nach ihm fragte, antwortete ich: Er ist tot. Keine weiteren Erklärungen.
    Jahrelang war für die Nürnberger Ermittler Enver Simseks angebliche Heroinstreckmittelfahrt aus der Geschichte Yildirims der wichtigste Grundstein gewesen, auf den sie ihre Drogentheorie bauten. Aber erst im Jahre 2006 erledigte ein neu in den Fall eingestiegener Beamter endlich die polizeilichen Hausaufgaben. Mit fünf Jahren Verspätung übernahm dieser Ermittler den überfälligen Routinejob, die Aussagen des angeblichen Zeugen Yildirim vom März 2001 systematisch und gründlich auf ihren Wahrheitsgehalt hin abzuklopfen. Punkt für Punkt nahm der Polizist sich den Bericht vor und glich ihn mit anderen Unterlagen aus dem Aktenberg ab.
    Im Sommer oder im Frühherbst 1997 hatte die Streckmittelfahrt angeblich stattgefunden, so hatte Yildirim es erzählt, vier bis acht Wochen vor seiner Festnahme sei das gewesen. Der

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