Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Vätern. Ich habe viel Zeit mit meinem Vater verbracht, ich weiß, wie er war. Das immerhin bleibt mir: Ich teile mit ihm eine Vergangenheit und das Schöne, das ich mit ihm erlebt habe. Das kann mir keiner nehmen.
Unser Umgang mit der Polizei änderte sich. Irgendwann ließen wir nicht mehr einfach alles mit uns geschehen, wir waren wütend. Ich erinnere mich an ein Gespräch, es war im Jahr 2006. Zwei Polizisten kamen zu uns und wollten wieder einmal mit uns reden, aber meine Mutter und ich erklärten: Das ist doch sinnlos, Sie haben in all den Jahren vor allem gegen uns ermittelt und nicht für uns!
Die Polizisten argumentierten, dass es einfach ihre Pflicht gewesen sei, auch den Verdacht gegen die Familie zu prüfen. Und sie umwarben uns. Wenn wir wissen wollten, wer das getan hat, dann sollten wir ihnen helfen und ihre Fragen mit ihnen durchgehen.
Na gut, sagten wir, fangen wir an.
Sie legten uns Fotos vor, wollten wissen, ob wir die Leute kennen würden. Auch wenn sie uns nichts weiter erklärten, konnten wir uns schon zusammenreimen, dass das Drogendealer waren. Sie fragten: Kamen jemals türkische Gäste aus Holland nach Schlüchtern? Vielleicht in die Moschee? Oder in ein Café? Wir verneinten alles, und meine Mutter versicherte, dass es nie solchen Besuch gegeben habe. Sie hätte doch davon erfahren, ihr Mann hatte ihr alles erzählt, und Schlüchtern ist klein, die Türken hier kennen einander.
Es ging weiter mit immer denselben Fragen, den Fragen wie beim letzten Mal, wie beim vorletzten Mal, teilweise hörten wir dieselben Fragen wie beim allerersten Mal. Wir versuchten, zu vergessen und Abstand zu gewinnen, aber dann kamen die Polizisten wieder vorbei, fast nach dem Motto: Schon lang nicht mehr gesehen, schon lang nichts mehr gefragt, haben Sie uns nicht vielleicht doch mittlerweile etwas mitzuteilen? Irgendwann wurde es lächerlich, immer wieder das Gleiche durchzukauen. Es kostete Zeit und Kraft. Jeder Tag mit solchen Gesprächen war ein verlorener Tag, jedes Mal wühlten die Fragen alles wieder auf, die schlimmen Erinnerungen und den Schmerz. Auch, weil wir merkten, dass sie meinen Vater noch immer im Verdacht hatten.
Im Lauf der Jahre warfen wir immer wieder ein: Könnte Ausländerfeindlichkeit das Motiv gewesen sein? Jedes Mal lautete die schnelle, stereotype Antwort: Wären es Rechtsextreme gewesen, hätten sie ein klares Bekennerzeichen hinterlassen, zum Beispiel ein Hakenkreuz. Damit war das Thema wieder vom Tisch. Die Polizisten, so dachten wir, sind doch Experten, die müssen doch wissen, was sie tun und sagen. Wir hatten ja trotz allem immer Vertrauen in die fachliche Kompetenz der Behörden. Wenn sie sagten, Fremdenfeindlichkeit, das könne nicht sein, glaubten wir ihnen. Heute ist mir klar, wir haben uns zu leicht abspeisen lassen. Aber was blieb uns anderes übrig, als uns in die Hände der Polizei zu begeben?
Hätte sie die Hypothese von der rechtsextremen Gewalt nicht mindestens mit derselben Hartnäckigkeit wie die anderen Spuren verfolgen müssen? War es nicht in hohem Maße unprofessionell und fahrlässig, das grundlegend auszuschließen, bloß weil ein Bekennerzeichen fehlte? Woher nahmen die Ermittler die Gewissheit, dass Neonazis immer so etwas hinterlassen? Es gab auch vorher schon genug Beispiele für äußerst brutale rassistische Übergriffe, bei denen die Täter ihre politische Gesinnung nicht schön ordentlich am Tatort für die Polizei dokumentierten.
Dann sprachen Ermittler aus der Türkei mit uns, die die deutschen Kollegen um Hilfe gebeten hatten. Aber auch die türkischen Polizisten hatten keine neuen Ideen. Wieder wurden wir vernommen, wieder liefen die Vernehmungen genau gleich ab, nur diesmal auf Türkisch. Wir schlossen daraus, dass auch sie glaubten, wir verheimlichten ihnen etwas. 2007 schaltete sich das Bundeskriminalamt in Wiesbaden ein und löcherte uns mit den üblichen Fragen. Im Lauf der Jahre kamen die Nürnberger so oft zu uns, dass wir ein paar Ermittler mit der Zeit etwas besser kennenlernten. Wir haben mit ihnen gegessen und getrunken, und einen dieser Polizisten kenne ich mittlerweile recht gut. Er stieg, soweit ich weiß, erst ein paar Jahre nach dem Mord an meinem Vater in den Fall ein und hatte, glaube ich, wohl auch die Aufgabe, uns als eine Art Betreuer und Ansprechpartner zu begleiten. Bei den Gesprächen im Jahr 2006 erzählte er auch öfters, dass der Fall ihn quälte, einmal offenbarte er uns, dass er deswegen manchmal nicht schlafen
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