Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Leben neu zu ordnen, pflichtbewusster zu werden. Mit dem Internetcafé sammelte er erste unternehmerische Erfahrungen, seit Februar des Jahres besuchte er die Abendschule, um seinen Realschulabschluss nachzumachen. Er war gläubig und ging regelmäßig in die Moschee. Nach seiner Ermordung sprang die Verdächtigungsmaschinerie mit unerbittlicher Zuverlässigkeit an. Ein Reporter wies die Ermittler darauf hin, dass Ismail Yozgat angeblich Kontakte zu den Grauen Wölfen gepflegt habe. Die «Bild» spekulierte über «vier heiße Spuren», nämlich «Drogenmafia, Organisierte Kriminalität, Schutzgeld, Geldwäsche». Der «Focus» zitierte einen führenden Nürnberger Ermittler, der angab, er halte «überhaupt nichts» von einem rechtsextremen Hintergrund bei dieser Mordserie. Über diese Möglichkeit wurde zu der Zeit immerhin schon offen gemutmaßt. Derselbe Polizist erklärte dem «Hamburger Abendblatt»: «Wir dringen in Gesellschaftsteile vor, die offensichtlich eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Polizei nicht gewohnt sind.» Und die Zeitung knüpfte daran die Überlegung, vielleicht seien ja alle Opfer «letzte Glieder einer Kette» gewesen, «Geldwäscher eines Drogenrings womöglich, die einen Fehler gemacht hatten, der sie das Leben kostete».
In einer Hinsicht allerdings unterschieden sich die Fälle Kubasik und Yozgat von den vorherigen: Die Familien der Opfer akzeptierten es nicht mehr lautlos, selber zu Verdächtigen gemacht zu werden, sie weigerten sich, den ermordeten Vater und den ermordeten Sohn als Menschen zu sehen, die womöglich in schlimme Dinge verstrickt waren und ihren Tod quasi selbst verschuldet hatten.
Die Yozgats wandten sich in einem Brief an die hessische Landesregierung unter dem CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch, doch die Politik wollte sich nicht zu einem Treffen mit den Angehörigen durchringen. Der Hilfeschrei verhallte ungehört. Mehmet Kubasiks Frau und seine Tochter Gamze erklärten früh und deutlich: Diese Tat rieche nach Fremdenfeindlichkeit. Sie wurden vom Alevitischen Kulturverein Dortmund unterstützt, dessen Sprecher «die tageszeitung» mit den Worten zitierte: «Alle Opfer sind Migranten. Da ist doch ein rechtsextremistischer Hintergrund sehr einleuchtend. Stattdessen gucken die Ermittler nur nach links und wollen wissen, ob Mehmet in der PKK aktiv war.» Immerhin schrieb auch die «Frankfurter Rundschau», der «Gedanke an einen fremdenfeindlichen Hintergrund» liege nahe.
Im Mai 2006 habe ich Gamze Kubasik in Kassel bei einer Kundgebung kennengelernt, zu der nach dem neunten Mord aufgerufen wurde. Der Vater von Halit Yozgat hatte uns dazu eingeladen. Es sollte endlich darauf aufmerksam gemacht werden, was diese Geschehnisse wirklich waren – neun brutale, abgebrühte Mordtaten, die die Polizei nicht aufklären konnte. Das schien aber niemanden in Deutschland zu beschäftigen oder zu empören.
Die letzten beiden Morde waren innerhalb von nur drei Tagen geschehen. Alle Angehörigen waren schockiert, so dicht aufeinander war noch nicht gemordet worden. Deshalb kam es zu der Aktion in Kassel, zu der auch meine Onkel und ihre Familien fuhren. Die Teilnehmer trugen Plakate mit Aufschriften: «Kein 10. Opfer!» und «Wie viele müssen noch sterben, damit die Täter gefasst werden?»
In Kassel bin ich Gamze begegnet, sie war zwanzig, genauso alt wie ich, und vom ersten Moment an erkannte ich mich in ihr wieder. Es war, als blickte ich in einen Seelenspiegel. Ich sah die Trauer in ihren Augen, und vermutlich konnte niemand sie besser verstehen als ich, die ich wusste, was in ihr vorging, was sie durchmachte. Mich packte in dem Moment auch eine ohnmächtige Wut. Mein Vater war der erste gewesen, der sterben musste, und ihr Vater war der achte, sechs Jahre später! Nach sechs Jahren musste wieder jemand dasselbe erleiden wie wir, wie konnte, wie durfte das geschehen?
Gamze und ich mussten von Anfang an nicht viel reden, um uns zu verständigen. Sie kann in mein Innerstes sehen, wir teilen den Schmerz und das Schicksal, ohne Vater klarkommen zu müssen. Sie ist eine gute Freundin geworden, und oft habe ich mir gewünscht, ich hätte sie unter anderen Umständen kennengelernt. Manchmal finden wir es schade, dass wir fast nur über schlimme Dinge reden, wir würden lieber mehr miteinander lachen, und einmal beschlossen wir sogar, uns künftig nur noch über Schönes zu unterhalten. Es gelingt uns natürlich trotzdem bis heute fast nie.
Gamze und ich
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