Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
Vom Netzwerk:
stellten bald fest, dass die Ermittlungen bei uns allen fast gleich verliefen. Warum fragten die Ermittler beim siebten, achten, neunten Mord immer noch, ob es ein Motiv in der Familie geben könnte? Obwohl doch jedes Mal die Ceska im Spiel war? Obwohl die Opfer nichts miteinander zu tun hatten, einander noch nicht einmal flüchtig kannten?
    Irgendwann um 2006 stieß ich auf ein Wort, das mich unglaublich wütend machte. Ich schlug ahnungslos eine Zeitung auf, sah das Foto meines Vaters – und las daneben etwas vom «Döner-Killer». Was hatte mein Vater mit Dönern zu tun? Wenn die Erschossenen Deutsche gewesen wären, hätte man dann «Kartoffel-Morde» geschrieben? Das war achtlos, zynisch und rassistisch. Als Erster, so weiß ich heute, hat wohl ein Nürnberger Lokaljournalist den Begriff «Dönermord» verwendet, die anderen schrieben dann bei ihm ab.
    Der Ausdruck war herabwürdigend und beleidigend gegenüber den Opfern, die so unterschiedliche Biographien hatten: Mein Vater hatte sich zum erfolgreichen Blumenhändler hochgearbeitet, seine Persönlichkeit und seine Lebensleistung wurden durch die abfällige Bezeichnung für unwichtig erklärt. Neun Menschen waren ermordet worden, nur eines der Opfer hatte einen Dönerstand betrieben, nur ein anderer hatte an einem Döner-Imbiss ausgeholfen.
    Als Gamze und ich uns kennenlernten, beschlossen wir, nicht mehr länger zu schweigen, sondern an die Öffentlichkeit zu gehen. Wir gaben ein Fernsehinterview. Vor Wut, dass nichts passierte, dass die Angehörigen nur mit den ewig gleichen Verdächtigungen traktiert wurden, dass der Möglichkeit der Ausländerfeindlichkeit nie nachgegangen wurde. Neun Menschen sterben, und sie haben nur eine einzige Verbindung: Alle sind Migranten, führten türkische oder griechische Geschäfte oder arbeiteten dort.
    Das war 2006, fünf Jahre bevor die Wahrheit herauskam. Heute weiß ich, wir hätten damals insistieren müssen. Wir hielten Fremdenfeindlichkeit zwar für einen denkbaren Antrieb des Mörders, aber wir stellten uns dabei einen Psychopathen vor, der womöglich einmal schlechte Erfahrungen mit einem Türken gemacht hatte. Wenn ich es heute bedenke, war diese Sichtweise schon von der Perspektive der Ermittler beeinflusst, die uns einmal erklärt hatten, der Mörder könnte vielleicht ein Mensch sein, der von einem Türken gedemütigt worden sei und sich nun auf kranke Weise rächen wollte. Aber neben einem verrückten Einzeltäter lag die Möglichkeit einer durchgeplanten, rassistisch motivierten Mordserie für uns jenseits des Vorstellbaren. Meine Familie und ich waren nie mit Fremdenfeindlichkeit in Form von Beleidigungen oder Aggression konfrontiert worden. Wir sahen uns nicht einmal als Ausländer, Kerim und ich sind in Deutschland aufgewachsen, wir empfanden uns nie als Fremde.
    Als ich mit Gamze das Interview gab, hofften wir auf Hinweise, dass sich vielleicht ein Zeuge meldet. Wir wollten auch Druck ausüben, auf diese Geschichte aufmerksam machen. Später haben wir auch in Dortmund noch einmal demonstriert. Das alles verpuffte ohne Nachhall.
    Keiner konnte behaupten, sie hätten nichts getan. Jahr um Jahr hatten sich die Ermittler versenkt in eine Unterwelt aus PKK und Grauen Wölfen, Schutzgelderpressung und Drogenhandel, hatten im Dunkeln den immer gleichen Spuren nachgetastet, aber sie waren nie ins Licht vorgestoßen. Wer hatte sich nicht alles um Aufklärung bemüht: die Kriminaldirektion Nürnberg und das Polizeipräsidium Mittelfranken, bei dem erst die «Sonderkommission Halbmond» angesiedelt war und später die «Besondere Aufbauorganisation (BAO) Bosporus»; dann die Polizeipräsidien München, Dortmund und Nordhessen; die Landeskriminalämter Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern; und irgendwann, ab 2004, auch das Bundeskriminalamt in Wiesbaden mit der «Ermittlungsgruppe Ceska». Koordinierungsstellen wurden eingerichtet, Steuerungsgruppen tagten, örtliche Kripochefs und Präsidenten der Landespolizei mischten mit, die Experten der Bundesbehörde brachten ihre Sichtweise ein. Alle arbeiteten verbissen, mal miteinander, mal nebeneinander, mal aneinander vorbei. Jeder wollte den Fall lösen, und so kooperierten sie und konkurrierten.
    Jahr für Jahr schrieben die Zeitungen weiter von der «Drogenmafia» und einer «Istanbul-Connection», und die Ermittler soufflierten. Der Leiter der Soko Bosporus mutmaßte im Interview, vielleicht seien alle Ermordeten zuvor «in der Drogenszene aktiv» gewesen, ein anderer

Weitere Kostenlose Bücher