Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
konnte. Er gab uns sogar seine Privatnummer, damit wir uns jederzeit an ihn wenden könnten, wenn uns etwas einfiele oder falls wir eine Frage hätten. Ich tat das ein paarmal. Wenn ich in der Zeitung wieder von der angeblichen Drogenspur gelesen hatte, rief ich ihn an und fragte, was denn dran sei, und er war offen mit mir. Mal erzählte er, dass sie tatsächlich neuen, wenn auch ungesicherten Anhaltspunkten folgten, mal erklärte er mir, dass es in Wahrheit leider gar nichts Neues gab.
Ich habe das Gefühl, irgendwann glaubten uns zumindest ein paar von ihnen, dass wir mit dem Mord nichts zu tun hatten. Und mit der Zeit begriff der eine oder andere auch, wie sehr wir unter alldem litten. Womöglich bewunderten sie sogar, wie unsere Familie zusammenhielt und sich half. Deutlich gesagt haben sie nie etwas dergleichen, aber ich habe es gespürt.
Trotzdem blieben die Gespräche zermürbend. Es war wie in einer Zeitschleife, immer dieselben Fragen, seit Jahren nun. Ich schätze, allein 2006 und 2007 waren die Ermittler ein Dutzend Mal bei uns. Dafür gab es einen Grund: Der achte und neunte Ceska-Mord waren gerade geschehen.
Er war ein friedlicher, beliebter Mensch und guter Vater. Ohne Berufsausbildung war er als junger Mann aus der Türkei gekommen und hatte dennoch in Deutschland seinen Weg gemacht. Als einfacher Hilfsarbeiter fing er an, später machte er sich selbständig. Geld zu verdienen, um seiner Familie die Zukunft zu sichern, das war sein Hauptantrieb, und so arbeitete er viel und schlief wenig. Er führte eine glückliche Ehe, es war eine Liebesheirat gewesen. Seine Frau fand keine Laster an ihm, allenfalls das Rauchen. Sie teilten Aufgaben und Pflichten, sie packte im Geschäft mit an, er kümmerte sich um die Kinder, er war ein Familienmensch, zu seiner Tochter hatte er ein ungewöhnlich vertrauensvolles Verhältnis. Allerdings klagte seine Frau immer öfter, die Arbeit fresse sie auf, sie hätten kaum mehr Zeit füreinander, für die Kinder. Auch er fand, dass es zu viel wurde, und deshalb wollte er sein Geschäft verkaufen. Es gab auch schon einen Interessenten, der mehrmals da gewesen war und sich genau angeschaut hatte, was der Laden abwarf. Oft trug er ein Bündel Geldscheine in der Hosentasche. Politik trieb ihn nicht sonderlich um, manchmal bekam er Ärger mit dem Ordnungsamt, weil er sich nicht an die gesetzlichen Verkaufszeiten hielt. Am Morgen bevor er starb, frühstückte er noch mit seiner Frau. Mehmet Kubasik war neununddreißig Jahre alt, als er erschossen wurde. Der Mann, dessen Leben in so vielen Details dem von Enver Simsek geähnelt hatte, war das achte Opfer der Ceska-Killer, er starb am 4. April 2006 in der Mallinckrodt-Straße in Dortmund, knapp sechs Jahre nach dem ersten Mord.
Kubasik betrieb einen Kiosk mit Trinkhalle an einer vierspurigen Straße, er verkaufte Zeitschriften, Süßigkeiten, Getränke, Zigaretten. Der Laden war geöffnet von morgens um sieben bis nachts um eins, und um das zu bewältigen, arbeitete die ganze Familie zusammen: Die erste Schicht übernahm oft die Ehefrau, mittags nach der Schule half manchmal die Tochter Gamze aus, am Nachmittag, am Abend, in der Nacht war Mehmet Kubasik dran. Gamze war als kleines Kind mit ihren Eltern nach Dortmund gekommen, war hier in den Kindergarten und zur Schule gegangen, nun besuchte sie die Oberstufe des Berufskollegs für Wirtschaft und Verwaltung.
Am Morgen des 4. April brachte Gamze Kubasik ihren kleinen Bruder zum Kindergarten, damit der Vater noch etwas schlafen konnte, um 8 Uhr 45 ging sie zur Schule. Um 13 Uhr 10 war die zu Ende, und Gamzes Heimweg führte sie vorbei am Kiosk. Schon von weitem sah sie die Menschentraube, die Absperrbänder, die Blaulichter. Ihr Vater war zwei Kopfschüssen erlegen.
Auch bei den Kubasiks suchte die Polizei mit einem Drogenspürhund die Wohnung, das Auto, den Kiosk ab – und auch im Fall Halit Yozgat wiederholte sich eine Geschichte. Ismail Yozgat betrat am 6. April 2006 das Internetcafé in Kassel, um seinen Sohn abzulösen, der es betrieb, sah etwas Rotes auf der Theke und dachte zunächst, jemand habe Farbe verschüttet. Er ging um den Tresen und fand dahinter seinen Jungen – ähnlich, wie es Ali Tasköprü im Jahr 2001 ergangen war.
Halit Yozgat war ein gutmütiger, lustiger Kerl, der eine Weile nach seinem Weg gesucht hatte. Er war temperamentvoll, und nach einer stürmischen, etwas orientierungslosen Schulzeit gelang es ihm im Jahr 2006 gerade, sein junges
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