Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Polizist brachte «Waffenschmuggel» und «Menschenhandel» ins Spiel. Ein Ermittler kritisierte die «Mauer des Schweigens» in der türkischen Szene und meinte, diese Leute seien einfach «noch nicht in dieser Gesellschaft angekommen», eine Zeitung nannte die Opferfamilien «äußerst zugeknöpft», und ein Nachrichtenmagazin erklärte sich ihre Sprachlosigkeit mit «Angst vor den Killern».
Immerhin, nach dem neunten Mord begannen manche Ermittler in ihrer Hilflosigkeit auch sogenannte «Alternativ-Hypothesen» zu erwägen. Ein Kasseler Hauptkommissar äußerte in einem Interview: Vielleicht seien die Opfer einfach nach ihrer ethnischen Herkunft ausgesucht worden. Und nun kam die OFA, die «Operative Fallanalyse» ins Spiel, was immer dann geschah, wenn die Polizei bei schweren Verbrechen feststeckte. Die Experten der OFA versuchten, aus den vorhandenen Fakten ein Täterprofil zu destillieren und alte Daten neu zu interpretieren. Sie saßen sozusagen hinter den Ermittlern. Weiter weg vom Fall und doch dichter dran, da es ihre Aufgabe war, sich in den Kopf des Mörders hineinzudenken. Das Prinzip stammte aus den USA, wo es als «Profiling» bekannt ist.
2006 analysierte die OFA Bayern zunächst die ersten sieben Morde und kam zu dem Ergebnis, dass das Organisierte Verbrechen dahinterstecken müsse, hier wären Tötungsfachmänner am Werk gewesen, die im Auftrag einer Gruppe oder Bande arbeiteten. Kurz darauf bezogen die bayerischen Profiler die Morde an Kubasik und Yozgat mit ein und folgerten diesmal: Es könne auch ein Einzel- oder ein Serientäter sein, vielleicht jemand, der einmal negative oder demütigende Erfahrungen mit einem Türken gemacht habe. Oder vielleicht einer, der der rechtsradikalen Szene nahestand. Man vermutete, der Mörder wäre wohl in den Jahrgängen zwischen 1960 und 1982 geboren, ein Deutscher, der im Raum Nürnberg zu Hause oder zumindest verwurzelt war.
Also prüften die Ermittler alle Schützenvereinsmitglieder und Inhaber einer Waffenbesitzkarte im Großraum Nürnberg. Wer hatte eine Ceska? Wer passte ins Profil? Kein Ergebnis, nichts. Sie checkten Leute, die einmal in und um Nürnberg gewohnt hatten und umgezogen waren. Wieder nichts. Das Bundeskriminalamt Wiesbaden blieb derweil bei der These von den Auftragsmorden im Drogenmilieu – auch wenn andere Erklärungsmodelle «zurzeit noch nicht vollständig ausgeschlossen werden» könnten. Und die BAO Bosporus beauftragte noch im selben Jahr 2006 zusätzlich die OFA-Kollegen aus Baden-Württemberg mit einer Expertise. Auch die schwäbischen Profiler kamen zu dem Urteil, dass man es hier mit Organisierter Kriminalität zu tun habe. So half also auch die Operative Fallanalyse nicht weiter. Die Urteile schwankten und widersprachen sich: Die einen sagten erst dies und die anderen dann jenes, binnen eines einzigen Jahres wurde ein ausländerfeindlich motivierter Einzeltäter ausgeschlossen, dann als reelle Möglichkeit betrachtet, schließlich wieder verworfen.
Längst hatte sich der Fall zu einem Rätsel der kriminologischen Superlative ausgewachsen: Mehrmals berichtete die Fernsehsendung «Aktenzeichen XY … ungelöst» darüber, wobei der Moderator unter anderem fragte: «Haben sich die Opfer selbst in kriminelle Geschäfte verwickelt?» Die Belohnung für Hinweise erreichte die Rekordhöhe von dreihunderttausend Euro. Zeitweise arbeiteten bis zu hundertsechzig Beamte an dem Fall: Sie werteten sechzehn Millionen Funkzellendaten aus, dreizehn Millionen Banktransaktionsdaten, dreihunderttausend Hotelübernachtungsdaten, sechshunderttausend Einwohnermeldedaten, und im März 2007 baten sie hunderttausend Haushalte im Süden Nürnbergs per Postwurfsendung um Mithilfe. Die Ermittlungsakten füllen fünfzehnhundert Ordner.
Keiner konnte sagen, sie hätten nichts getan − sie versuchten es mit den unorthodoxesten Ermittlungsmethoden: Die Soko Bosporus begann undercover, in Nürnberg einen türkischen Döner-Imbiss zu betreiben, und bezahlte dann mutwillig die Lieferantenrechnungen nicht − vielleicht würde ein Geldeintreiberteam aufkreuzen und die Waffe ziehen, vielleicht war es auch bei den Erschossenen so gelaufen? Eine Ermittlerin tarnte sich als Journalistin und hörte sich bei türkischen Gewerbetreibenden um – vielleicht würde sie so einen Zugang zur Halbmond-Mafia finden? Hamburger Polizisten trafen sich 2008 mit einem aus dem Iran eingeflogenen Geisterbeschwörer, der den Beamten angeboten hatte, über ein Medium Kontakt
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