Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
ins Jenseits zu dem sieben Jahre zuvor ermordeten Süleyman Tasköprü herzustellen. «Versuch macht klug, und verlieren können wir letztlich nichts», begründete ein Ermittler das bizarre Rechercheprojekt in einer E-Mail gegenüber Kollegen. Und es gab eine Razzia in türkischen Vereinen – vielleicht würden die Leute, wenn man sie ruppig aufscheuchte, wieder über die Fälle reden, und vielleicht ließe sich dann bei einer Abhöraktion etwas erlauschen.
Aber niemand versuchte, den säumigen Dönerverkäufer umzubringen. Kein türkischer Händler gab der «Journalistin» einen Tipp. Der Hellseher förderte keine Neuigkeiten aus dem Schattenreich zutage. Und die Razzia sorgte zwar für Unruhe und Unmut, aber sonst kam nichts dabei heraus.
Sie analysierten DNA-Proben, sammelten Fingerabdrücke, holten Schusswaffengutachten ein, gaben chemisch-toxikologische Untersuchungen in Auftrag. Sie tingelten durch Spielhöllen, Kneipen, Absteigen, Bordelle. Sie besuchten aussagewillige inhaftierte Kriminelle und hörten sich deren Räuberpistolen an, sie bestellten türkische Hausfrauen ein und hörten sich deren «Ich weiß doch wirklich nichts» an. Sie gruben und bohrten, vernahmen und verwanzten. Zwischen Herbst 2006 und Frühjahr 2008 befragten die Nürnberger Ermittler noch einmal viele Bekannte und Verwandte Enver Simseks, klopften noch einmal bei dreiundsechzig Leuten an, bei manchen mehrmals, bei einem Blumenhändlerkollegen gar siebenmal. Immer und immer wieder wurde dasselbe umgerührt und durchgekaut. All diese Vernehmungen brachten nichts außer dem Echo des Verdachts, das immer wieder genährt wurde: Hast du gehört? Die Polizei glaubt immer noch, dass Enver Dreck am Stecken hatte, das muss doch einen Grund haben …
Anfangs hatten die Ermittler geschrieben, «zweifelsohne» gebe es Belege für die Drogenthese, sie «erhärte» sich. Mit den Jahren verschwanden die forschen Formulierungen aus den Zwischenbilanzen. Anfang 2008 verfassten die Nürnberger Kommissare von der BAO Bosporus noch einmal einen Sachstandsbericht. Er war zweiundneunzig Seiten stark, aber die Quintessenz passte in vier Zeilen: Trotz all des Aufwands lasse sich im Prinzip nur sagen, dass für diese Mordserie entweder eine Organisation verantwortlich sei oder ein Einzeltäter. Für das eine gebe es keine wirklich belastbaren Indizien. Und für das andere auch nicht.
Keiner konnte behaupten, sie hätten nichts getan, aber was hielten sie in Händen? «Nichts, nichts, nichts», antwortete der Nürnberger Polizeipräsident in einem Zeitungsinterview, «nicht mal das Schwarze unter dem Fingernagel.» Das war nur fast richtig: Bei ihren Ermittlungen hatten die Polizisten im Hause Simsek Kontoauszüge, Rechnungsbücher, Bankunterlagen beschlagnahmt. Sie studierten das Material, entdeckten, dass da nicht alles steuerlich korrekt gelaufen sei, und leiteten ein Verfahren ein. Dies also war die Bilanz der Ermittlungen im Mordfall Enver Simsek: Sie suchten seinen Mörder und fanden Steuerschulden.
2007 begann ich mein letztes Studienjahr, das Anerkennungsjahr, in dem mir der Sprung in die Berufspraxis gelang: Abwechselnd ging ich zur Uni und arbeitete im Sportjugendhaus in Frankfurt-Rödelheim, und nach diesem Jahr hatte ich meine Ausbildung abgeschlossen, ich war jetzt Sozialpädagogin. Mein Bruder hatte an der Fachhochschule in Friedberg einen Studienplatz bekommen und studierte zunächst Maschinenbau, bevor er zur Medizintechnik wechselte. Wir fanden es naheliegend, zusammen nach Friedberg zu ziehen, wo auch unsere beiden Onkel leben. 2008, als ich im Sportjugendhaus fest übernommen wurde, mieteten Kerim und ich uns eine kleine Wohnung. Ich ging zur Arbeit, er zur Uni, und da ich in der Regel erst nach 22 Uhr nach Hause kam, kochte er oft für uns, meistens Pasta, das kann er sehr gut. Oder Fleisch, die Liebe dazu hat er von Papa. Wir haben uns wegen des Haushalts noch nie gestritten. Allenfalls schnauzte ich ihn mal an, wenn er in der Küche geraucht hatte, anstatt auf den Balkon zu gehen. Aber im Grunde war er oft ordentlicher als ich. Es tat uns einfach gut, beisammen zu sein. Wenn einer von uns beiden heimkam und die Wohnungstür öffnete, sagte er immer erst: Hallo, ich bin da! Mal auf Deutsch, mal auf Türkisch.
Unsere Onkel Hursit und Hüseyin waren in all den Jahren für uns da, sie übernahmen ein Stück weit die Vaterrolle für Kerim und mich. Sie und unsere Tanten Ümmü und Hatun nahmen uns in ihre Familien auf, wir aßen
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