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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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zusammen, feierten zusammen. Unsere Familie braucht keinen besonderen Grund, um sich zu treffen. Ich bin glücklich, dass ich solche Onkel und Tanten habe.
    Die Arbeit im Sportjugendhaus liebte ich. Es ist eine Einrichtung für junge Leute, die jüngsten sind vierzehn, die ältesten Ende zwanzig, und die meisten haben ausländische Wurzeln, Türken sind darunter, aber auch Albaner, Marokkaner, Serben, Russen, Italiener. Es gibt dort Billard- und Kickertische, PCs, eine Theke, einen Fernseher, eine Couch, ein Playstationzimmer, einen Spiegelraum, um Breakdance zu üben, ein Mädchenzimmer und sogar einen Fitnessbereich mit Umkleidekabinen, Kraftraum und Geräten. Wir stellten etwas für die jungen Leute auf die Beine, um sie zu begeistern: Boxen, Drachenbootrennen, Mitternachtsfußball. Die meisten von ihnen gingen zur Schule oder machten eine Ausbildung, manche studierten sogar. Natürlich gab es ein paar, die einfach in den Tag hinein lebten, aber alle wollten mit ihrem Leben etwas anfangen. Sport wurde großgeschrieben, und das fand ich am Konzept des Hauses toll. Sport hilft, das Leben zu meistern, denn er erfüllt eine Doppelrolle – einerseits kann man sich dabei austoben, andererseits lernt man Disziplin. Den Jungs war ihr Körper sehr wichtig, sie hielten sich an Trainingspläne, legten Wert auf ihre Ernährung, und ich habe sie bewundert für ihren Ehrgeiz und ihre Konsequenz.
    Manchmal haben wir über Gott und die Welt diskutiert, dann half ich beim Schreiben von Bewerbungen, oder wir kochten gemeinsam. Auch den Müttern habe ich manchmal bei Formularen geholfen. Ich hörte zu, wenn sie Beziehungsprobleme hatten, oder redete jemandem ins Gewissen, wenn er was angestellt hatte und Sozialstunden ableisten musste. Die Jungs gingen sehr respektvoll mit mir um. Machos? Mir gegenüber nicht. Sie schimpften höchstens scherzhaft, wenn ich zu viele Süßigkeiten aß, denn sie wollten mich zum Trainieren und Abnehmen überreden, weil ich immer jammerte, ich sei zu dick. Es gab feste Regeln, und natürlich rebellierten sie auch mal dagegen und testeten die Grenzen aus, aber am Ende haben sie sie immer eingehalten.

    Etwa zwei Jahre nachdem ich im Beruf Fuß gefasst hatte, lernte ich meinen Mann kennen. Das heißt, flüchtig kannte ich Fatih schon länger. Er stammt aus Sarkikaraagac, einem Nachbarstädtchen etwa zehn Kilometer von Salur entfernt, er hat immer dort gelebt und dachte nie daran, nach Deutschland auszuwandern. Im Juli 2011 flog ich zur Beerdigung meiner Oma in die Türkei. Wir waren überstürzt aufgebrochen, und so hatte ich mein Rückflugticket nur digital dabei, auf einem Stick gespeichert, und wusste nicht, wo ich es ausdrucken konnte. Fatih ist Journalist, er gibt zusammen mit seinem Bruder in Sarkikaraagac eine Lokalzeitung heraus. Die beiden machen alles selbst, sie schreiben Texte, akquirieren Anzeigen, organisieren den Betrieb. Die Büros sind im ersten Stock ihres Hauses, und im Erdgeschoss betreiben sie ein Internetcafé.
    Das war die Lösung für mein Druckerproblem, also fuhr ich hin. Das Ticket konnte ich ausdrucken, aber Fatih war an dem Tag nicht da. Weil er immer gesagt hatte, ich solle doch mal vorbeischauen, wenn ich zu Besuch wäre, bat ich die Aushilfe, ihm einen Gruß auszurichten. Kurz darauf rief er mich an: Du bist in der Türkei? Lass uns was unternehmen! Wir verbrachten den Abend zusammen und sahen uns noch mal am nächsten Tag, bevor ich nach Deutschland zurückflog. Fortan telefonierten wir öfter. So fing es an. Ein paar Monate später war ich wieder in Salur. Wir trafen uns, lernten uns besser kennen, ich war abends bei seinen Eltern zum Essen. Im September 2011 wurden wir ein Paar.
    Als Journalist wusste Fatih natürlich von der Ceska-Mordserie. Aber ihm war zunächst nicht klar, dass ich zu einer betroffenen Familie gehöre. Bei einem unserer ersten Ausflüge fragte er mich: Was arbeitet eigentlich dein Vater? Ich sagte: Er ist tot. Fatih bat um Entschuldigung und hakte nicht nach. Erst später, als wir uns besser kannten, griff er das Thema wieder auf. Dieses Mal erklärte ich ihm, dass mein Vater ermordet worden war und dass wir nicht wussten, von wem, und Fatih bohrte nicht weiter. Diese Rücksicht gefiel mir sehr an ihm, er spürte, wie schwer es mir fiel, darüber zu reden.
    Es war mir nie leichtgefallen, eine tiefe Beziehung zu einem anderen Menschen einzugehen. Ich traute mich nicht, mich an jemanden zu binden, weil ich fürchtete, nur umso mehr zu leiden, wenn

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