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Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)

Titel: Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Semiya Simsek , Peter Schwarz
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er wieder weg ist. Alles kann ganz schnell vorbei sein – das ist mir damals bewusst geworden, als mein Vater starb, und das empfinde ich heute noch so. Einen solchen Verlustschock wollte ich nicht noch einmal erleben, ich wollte nicht noch einmal so verletzbar sein. Gleichzeitig wurde mir auch klar, dass man stark sein und lernen muss, sich selber zurechtzufinden. Damals wurde ich selbständig, aber ich gewöhnte mir auch an, mich meinen Gefühlen nicht auszuliefern. Seit ich Fatih kenne, gelingt es mir besser, mich auf Nähe einzulassen. Er hilft mir, weil ich spüre, dass er mich versteht.

    Da Fatih in der Türkei lebte, war unsere Beziehung von Anfang an zwischen den beiden Ländern hin- und hergerissen. Ich flog viel und ahnte bald, dass das auf die Dauer nicht so weitergehen konnte. Natürlich hatte ich auch Zweifel, ob es mit uns klappen würde. Dabei sehnte ich mich nach jemandem, auf den ich mich verlassen konnte. Fatih hat mich ermutigt, und wir sind uns im richtigen Moment begegnet, in einer Zeit, als ich begann, offener zu werden. Deshalb wurde mir bald klar: Wenn wir eine echte Chance haben wollten, mussten wir uns für ein gemeinsames Leben, für ein Land entscheiden. Das taten wir dann ziemlich schnell. Wir planten die Verlobung für Ende Februar 2012 in der Türkei.
    Mit den Rätseln um den Tod meines Vaters hatte ich zu der Zeit abgeschlossen, wir suchten nicht mehr nach Antworten. Seit 2006 war niemand mehr mit der Ceska erschossen worden, und so hatte ich mir meine eigene Version dessen, was geschehen sein musste, zurechtgelegt: Aus den Phantombildern zum Fall, die seit einigen Jahren kursierten, ließen sich zwar wenig Rückschlüsse ziehen, aber die Gesuchten darauf sahen sich ähnlich. Vielleicht sind es zwei Brüder, überlegte ich. Und irgendein schicksalhafter Zufall hatte die Mordserie beendet. Ich malte mir aus, dass die beiden in ihrem Haus verbrannt oder bei einem Unfall gestorben wären. Oder dass der eine umgekommen war und der andere sich alleine nicht mehr traute, weiter zu morden. So reimte ich mir das zusammen. Ich brauchte eine Erklärung, und ich schuf sie mir. Die Ungewissheit ist schwer auszuhalten, denn sie überschattet alles. Sie macht es unmöglich, sich auf die Trauer und den Schmerz einzulassen und ein unbelastetes Andenken an den Gestorbenen zu bewahren. Ohne Antwort kommen die Gedanken nie zur Ruhe.

    So vergingen elf Jahre. Zwei Flugzeuge bohrten sich in die Zwillingstürme von New York, der Bundestag stimmte der Entsendung von Streitkräften nach Afghanistan zu, und Onkel Hursit fand nicht mehr zurück zur Arbeit und zu seiner früheren Geschäftigkeit. Das Geschehene hatte zu viel Kraft aus ihm gesogen, manchmal saß er wochenlang zu Hause und brütete vor sich hin. Die Mark ging, der Euro kam, und Onkel Hüseyin betrieb sein Taxiunternehmen weiter. Ab und zu lockte er nach der Arbeit seinen Bruder aus dem Haus, ging mit ihm in ein Café. Die Raumfähre Columbia zerbrach kurz vor der Landung, die letzte Concorde flog von New York nach Paris, und mein Vater tauchte in meinen Träumen auf, verschwand und kehrte zurück, bis er mir mit den Jahren seltener erschien. Eine Flutwelle überspülte die Küste von Indonesien, ein Harvard-Student gründete Facebook, und mein kleiner Bruder Kerim wurde zum Mann. Wenn wir durch die Straßen von Friedberg gingen, meinte er manchmal in den Gesichtern der Passanten lesen zu können: Das sind die Kinder des Drogendealers. Johannes Paul II. starb, die «Bildzeitung» verkündete, dass «wir» jetzt Papst sind, und meine Mutter versuchte, wenn die Schwermut sie hinabzog, auf dem Weg des Gebets wieder herauszufinden. Deutschland feierte ein Sommermärchen, in Bad Reichenhall stürzte eine Eislaufhalle ein, und ich lernte, wenn ich nach meinem Vater gefragt wurde, welche Antwort die beste war: Er ist tot, Punkt. Der Bundestag beschloss die Rente mit siebenundsechzig, der Orkan Kyrill tobte über Europa, und der Verdacht gegen meinen Vater wurde für uns zu einem Hintergrundgeräusch, an das wir uns gewöhnten, er war so verlässlich und allgegenwärtig wie das Wetter. Barack Obama rief «Yes, we can», Lehman Brothers ging pleite, und die Besondere Aufbauorganisation Bosporus wurde zurückgeführt in die Allgemeine Aufbauordnung des Polizeipräsidiums Mittelfranken. Die Unterlagen zum Mord an meinem Vater wanderten zur Mordkommission für ungelöste Altfälle und wurden zu einem Fragezeichen zwischen Aktendeckeln, einem Rätsel aus

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