Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Regalmetern voller Zeugenvernehmungen, Protokollen, Gutachten, Sachstandsberichten, Mutmaßungen und Theorien. Michael Jackson starb, das Versandhaus Quelle wurde aufgelöst, und das Haus in Salur, das Vater gebaut hatte, das Haus mit dem Blick auf die Berge, wo im Sommer die Hirten mit den Schafen lebten, dieses Haus stand leer. Ich ging oft nicht einmal hin, wenn ich den Urlaub in der Türkei verbrachte, die damit verbundenen Erinnerungen wogen einfach zu schwer. Im Golf von Mexiko versank eine Ölplattform, ein Erdbeben verwüstete Haiti, und nur selten noch schrieb eine Zeitung von der «Mauer des Schweigens» und der «undurchdringlichen Parallelwelt» der Türken in Deutschland. In Fukushima schmolzen die Brennstäbe, in Norwegen tötete ein junger Mann siebenundsiebzig Unschuldige – um ein barbarisches Zeichen gegen die multikulturelle Gesellschaft und das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft zu setzen. Wir lebten weiter. Ich hatte mir eine Erklärung zurechtgelegt, die ich verkraften konnte, eine Deutung gefunden, die mir die Fragen zu zähmen half. Ich stellte mir vor, die Mörder sind tot. Es ist vorbei.
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Fünftes Kapitel
Die Wahrheit
Am Freitag, dem 11. November 2011, spielte die Türkei gegen Kroatien. Ich hatte einen freien Tag und wollte am Abend bei Onkel Hüseyin essen und bei seiner Familie das Fußballspiel ansehen. Kerim, der für Hüseyin öfters Taxi fährt, wollte nach der Arbeit dazukommen. Kurz vor dem Spiel war er endlich da, aber er wirkte verstört. In den Nachrichten hatte er etwas Seltsames gehört: Die Ceska, mit der unser Vater erschossen wurde, sei aufgetaucht, auch die mutmaßlichen Mörder habe man gefunden, aber sie wären tot, sie hätten sich umgebracht.
Im ersten Moment konnte ich nicht glauben, was er da sagte. In all den Jahren seit dem Tod meines Vaters hatten die Medien so viele Spekulationen verbreitet, so viele haltlose Vermutungen in den Raum gestellt, dass ich jeder vermeintlichen Enthüllung erst einmal misstraute. Und doch ließ uns die Nachricht nicht los. Im Internet fanden wir schnell einen Bericht über den Fall: Zwei Männer hatten ein paar Tage zuvor in Erfurt eine Bank überfallen und waren auf der Flucht von Polizisten in ihrem Wohnmobil umstellt worden. Daraufhin nahmen sich die Räuber das Leben, drei Stunden später sprengte eine Komplizin in Zwickau die gemeinsame Wohnung in die Luft und floh. Nach vier Tagen stellte sie sich der Polizei. Schon unmittelbar nach den Ereignissen hatte es in den Medien geheißen, die drei seien Neonazis und hätten 2007 in Heilbronn eine Polizeibeamtin umgebracht – die Dienstwaffe der jungen Frau lag in dem Wohnmobil. Nun habe man in den Trümmern der Wohnung auch die Ceska gefunden.
Meine Mutter war zu dieser Zeit in Salur, wo sie sich inzwischen öfter aufhielt. Wir telefonierten, und ich erzählte ihr von der Neuigkeit, doch sie war skeptisch und meinte, wir sollten abwarten, ob sich die Meldung überhaupt bewahrheite. Kerim und ich versuchten, ruhig zu bleiben, uns zu gedulden, bevor wir das Bundeskriminalamt anriefen. Die Wiesbadener Behörde war mittlerweile für den Fall zuständig, ein Beamter des BKA hatte uns eine Visitenkarte dagelassen. Wenn wir Fragen hätten, sollten wir uns bei ihm melden. Am nächsten Morgen wählte ich seine Nummer, aber es war Samstag, und so bekam ich nur eine Dame von der Telefonzentrale an den Apparat. Ich sei die Tochter von Enver Simsek, erklärte ich, und wolle erfahren, ob die Meldungen stimmten und man die Mörder meines Vaters tatsächlich gefunden habe. Die Frau blockte ab: Momentan sei niemand im Hause, der zu diesem Fall nähere Auskünfte erteilen könne, ich solle mich doch über die Medien informieren und den «Spiegel» oder die «Bild» lesen.
So sahen wir uns an jenem Wochenende zurückgeworfen auf die Meldungen in den Nachrichtensendungen, Zeitungen und im Internet, und wie in einem entsetzlichen Puzzle mussten wir uns selbst ein Bild aus den Neuigkeiten zusammensetzen. Beinahe stündlich erfuhren wir weitere, verstörende Details: von einer Gruppierung namens «Nationalsozialistischer Untergrund» und von ihrem Motto «Taten statt Worte», von einem «größeren rechtsextremen Netzwerk», das angeblich hinter den Verbrechen stand, und von Fotos, die diese Mörder, nachdem sie geschossen hatten, von ihren Opfern gemacht haben sollen. Immer neue Einzelheiten kamen nun in rascher Folge ans Licht, es war, als liefe
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