Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
ein albtraumhafter Film vor uns ab.
Bis heute ist mir rätselhaft, warum das BKA uns, die Angehörigen und unmittelbar Betroffenen, nicht vom ersten Tag an informiert hat. Wir hätten uns dann wenigstens auf die Presseberichte vorbereiten können. Stattdessen mussten wir uns wieder einmal allein mit dem auseinandersetzen, was die Medien verbreiteten, wir mussten wieder allein die richtigen von den weniger richtigen Meldungen zu unterscheiden versuchen und uns irgendwann von Apparat zu Apparat zu einem Zuständigen durchfragen. Als ich das später einmal ansprach, meinte ein Beamter des BKA, sie hätten unsere Nummern nicht gehabt. Was für eine dumme Ausrede. Die Polizisten hatten elf Jahre lang keine Schwierigkeiten, uns zu erreichen. In Wahrheit war es wohl so, dass einfach niemand an uns dachte, niemand sich für uns interessiert hat.
Am Montag rief ich den Nürnberger Ermittler an, der im Lauf der Jahre zu unserem Ansprechpartner geworden war. Er wusste nicht mehr als wir, auch er erfuhr von den neuen Erkenntnissen nur aus den Medien. Doch er versprach, sich kundig zu machen und uns baldmöglichst zu informieren. Zwei Tage später saßen wir mit ihm lange bei Onkel Hüseyin zusammen. Es war wie oft in den vergangenen Jahren, nur dass sich nun endlich, endlich etwas bewegte, endlich hatte dieses Treffen einen Sinn. Der Kommissar erzählte uns, dass die Ermittler aus allen Polizeibehörden, die sich jahrelang in ganz Deutschland mit den Mordfällen befasst hatten, zusammengerufen und über den aktuellen Stand informiert worden waren. Die Medienberichte stimmten, man hatte die Ceska gefunden. Die Mordserie war in ihren Grundzügen aufgeklärt. Die Mörder waren Neonazis, die dreizehn Jahre lang im Untergrund gelebt hatten. Dreizehn Jahre lang.
Damit hatten wir Gewissheit aus offizieller Quelle. Zugleich war ich vor den Kopf gestoßen und konnte keinen klaren Gedanken fassen, Kerim ging es genauso. Auch der Kommissar, der uns gegenübersaß, war schockiert. Er habe ein sehr mulmiges Gefühl bei der Sache, sagte er, da müsse vieles schiefgelaufen sein. Schließlich dachte er laut darüber nach, ob der Verfassungsschutz möglicherweise sein Wissen über die Terroristen für sich behalten und die Täter auf diese Weise gedeckt hatte. Es war ihm anzumerken, wie ihn das Versagen der Sicherheitsbehörden verunsicherte, jener Institutionen, zu denen auch er gehörte.
Einerseits waren wir erleichtert, endlich die Wahrheit zu kennen. All die gegen meinen Vater erhobenen Vorwürfe hatten sich als völlig aus der Luft gegriffen erwiesen. Einerseits spürte ich die Erleichterung: All das, was man meinem Vater vorgeworfen hatte – er ist ein Verbrecher, er ist ein Krimineller –, all das, was die Ermittler vermutet und die Medien spekuliert hatten, stimmte nicht, all das, was sie uns einzureden versucht hatten – mein Vater könnte dunkle Seiten gehabt haben –, fiel in sich zusammen. Da seht ihr’s, schrie es in mir, jetzt habt ihr’s! Er war nicht so einer! Da ist der Beweis! Sämtliche Vermutungen der Ermittler, sämtliche Spekulationen der Medien waren falsch. Zwar hatte ich nie an meinem Vater gezweifelt, aber dennoch fiel nun eine Last von mir ab, weil seine Unschuld endlich offiziell erwiesen war und ich wusste, wer ihn umgebracht hatte.
Andererseits aber stießen mich die Enthüllungen in eine tiefe Krise. Im Lauf der Jahre hatte ich meinen Weg gefunden, den Schmerz zu verdrängen oder ihn wenigstens nicht zu dicht an mich heranzulassen. Ich hatte zu sagen gelernt: Mein Vater ist tot. Punkt. Wir hatten uns damit abgefunden, dass der Fall vielleicht nie aufgeklärt würde. Wir hatten mit dem Geschehen fast abgeschlossen. Nun brach die Trauer erneut über mich herein, es war, als sei mein Vater eben erst gestorben. Erinnerungen flimmerten mir unablässig durch den Kopf, in Gedanken durchlebte ich die vergangenen elf Jahre wie im Zeitraffer. Alles kam wieder hoch: die Vernehmungen, die Ängste, unsere Ohnmacht und all die ungelösten Fragen, die ich von mir weggeschoben hatte.
Der Schmerz war diesmal ein anderer als der nach dem Tod meines Vaters. Mit vierzehn trauert man wie ein Kind, man spürt als Jugendliche zwar vieles, versteht es aber noch nicht. Nun, mit sechsundzwanzig, sah ich die Dinge in ihrer ganzen Schärfe, vor allem die Qualen, die meine Mutter und ihre Brüder in diesen Jahren voller Verdächtigungen gegen sie selbst und gegen meinen Vater hatten aushalten müssen. Dass meine Mutter nicht in
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