Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Deutschland war, als täglich neue Enthüllungen durch die Nachrichten schwirrten, empfanden Kerim und ich als Erleichterung. Um sie zu schonen, erzählten wir ihr nur das Nötigste, manche Details kennt sie bis heute nicht. Ich wollte vermeiden, dass die Trauer meine Mutter wieder überwältigt. Deshalb überredeten wir sie sogar, noch etwas länger in der Türkei zu bleiben. Sie kam erst im Frühjahr 2012 wieder zurück. Kerim dagegen haben die Berichte furchtbar mitgenommen. Er konnte kaum mehr etwas essen, so sehr stand er unter Schock. In diesen Tagen weinte ich mich manchmal bei einer Freundin aus. Mir war bewusst, dass es für Kerim alles nur noch schwerer machen würde, wenn mir zu Hause die Tränen kämen, als ältere Schwester musste ich stark bleiben.
Mein Vater musste sterben, weil er schwarze Haare und eine dunklere Haut hatte als seine Nachbarn, weil auf seinem Auto ein nichtdeutscher Name stand – er musste sterben, weil er ein Türke war. Diese Erkenntnis hat mich fast zerrissen. Elf Jahre lang hatten die Polizisten uns gesagt, ein fremdenfeindliches Motiv für den Mord komme nicht in Frage, es gebe ja kein Bekennerzeichen. Und nun mussten sie eingestehen, dass er nur deshalb erschossen wurde, weil er Ausländer war. Plötzlich verspürte ich wieder die Angst wie in der ersten Zeit nach dem Mord, als wir fürchteten, die Mörder könnten noch jemanden aus unserer Familie im Visier haben. Diese Verunsicherung hatte auch viele andere Türken in Deutschland erfasst. Wir wussten nun, dass es jeden von uns hätte treffen können. Darin lag, bei aller Erleichterung, weil die Ungewissheit von uns abgefallen war, ein neuer Schock. Denn wenn es in Deutschland Menschen gab, die aus rassistischem Hass morden, dann war diese Geschichte längst nicht zu Ende. All die Verdächtigungen, die wir elf Jahre lang ertragen mussten: für nichts. All die Gerüchte, die uns umgeben hatten: zu Unrecht. All das Misstrauen gegenüber meinem Vater: grundlos. Elf Jahre lang konnten wir nicht einmal in Ruhe um ihn trauern. Uns wurden so viele gemeinsame Jahre geraubt. Mir wurde klar, wie vieles uns gestohlen worden war, wie viele schöne Erlebnisse wir noch miteinander hätten teilen, wie viele unbeschwerte Jahre wir hätten erleben dürfen in der Vergangenheit und noch heute und in Zukunft, wenn mein Vater am Leben geblieben wäre.
In den Trümmern der Zwickauer Wohnung hatten die Ermittler ein Bekennervideo des Trios gefunden, das die Terroristen an Zeitungen und die türkische Moscheegemeinde verschicken wollten. Ein Journalist fragte mich, ob ich die DVD ansehen wolle, und in der ersten Verwirrung sagte ich spontan zu. Ich hätte es besser nicht tun sollen. Ich dachte nicht daran, was dieser Film in mir anrichten könnte, zu stark war mein Bedürfnis nach weiterer Aufklärung, mehr Informationen und Details. Ich wollte alles über das Verbrechen erfahren.
In dem viertelstündigen Film sind Sequenzen der Zeichentrickserie «Paulchen Panther» mit Fotos der Ermordeten am Tatort zusammengeschnitten, die die Täter gemacht hatten. Während in den Originalfilmen ein Erzähler mit sanfter Ironie von den harmlosen Streichen der Trickfigur erzählt, hatten die Mörder die originale Tonspur aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und damit Bilder der Gewalttaten unterlegt – die Stimme des «Paulchen Panther»-Erzählers kommentiert quasi das Mordtreiben. Das Video ist professionell und detailversessen gemacht, die Täter müssen für dieses Machwerk viel Zeit aufgewendet haben. In der Sequenz, die den Mord an meinem Vater behandelt, ist ein Foto des Sprinters mit dem «Simsek»-Schriftzug zu sehen, umgeben von Blumensträußen, dann erscheint ein von der Polizei in Umlauf gebrachtes und später in «Aktenzeichen XY … ungelöst» veröffentlichtes Passfoto meines Vaters, überschrieben mit roten Buchstaben – «Ticket in die Hölle 9.9.2000». Der rosarote Panther streckt seinen Kopf ins Bild, und der Erzähler reimt: «Das scheint das Ei des Kolumbus zu sein – dem Paul fällt zum Glück doch immer was ein.» Der markante Soundtrack des Trickfilms setzt ein, diese lässig swingende Musik, dann folgt ein Foto, das die Mörder aufgenommen hatten: mein Vater, der zwischen den Blumen in seinem Blut liegt. Wieder ertönt die Stimme des Erzählers: «Und weil der Paul von Uniformen nicht viel hält, gibt er, ganz prophylaktisch, schon mal Fersengeld.»
Sie hatten meinen Vater niedergeschossen und dann fotografiert.
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