Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater (German Edition)
Nürnberg an, sämtliche Neonazis der freien Kameradschaften, NPD-Leute und Skinheads. Zunächst weigerte sich der bayerische Geheimdienst, entsprechende Erkenntnisse zu übermitteln, erst nach einem Dreivierteljahr lag die Liste der Polizei endlich vor. Bis die Ermittler diese Liste allerdings systematisch abgearbeitet hatten, vergingen weitere Monate, nicht zuletzt wegen interner Unstimmigkeiten in Nürnberg, wie wichtig diese Spur zu nehmen sei. Auf die naheliegende Idee, auch andere Landesverfassungsschutzämter um solche Listen zu bitten, kam man erst gar nicht.
Fehler, Inkonsequenzen, Orientierungslosigkeit, Kompetenzstreitigkeiten, Kooperationswirrwarr, Schlamperei – vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz die Gefahr von rechts völlig unterschätzte. «Derzeit sind in Deutschland keine rechtsterroristischen Organisationen und Strukturen erkennbar», hieß es im Juli 2004 in einem internen Bericht der Behörde. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Trio bereits fünf Menschen erschossen. Die Geheimdienstler hielten hartnäckig an ihrer Fehleinschätzung fest, Zweifel scheinen ihnen nie gekommen zu sein. Im Juli 2011 – dreizehn Jahre nach dem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, elf Jahre nach dem Mord an Enver Simsek, sieben Jahre nach dem Nagelbombenanschlag in Köln, vier Jahre nach den Schüssen auf die Polizistin Michelle Kiesewetter und ihren Kollegen – stellte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich der Öffentlichkeit den Verfassungsschutzbericht 2010 vor. Im Abschnitt über die «Gewaltbereitschaft in der rechtsextremistischen Szene» lautete der entscheidende erste Satz, der schon die Kernbotschaft enthält: «Auch 2010 waren in Deutschland keine rechtsterroristischen Strukturen feststellbar.»
«Den großen Fehler», sagt ein führender Ermittler der Nürnberger Polizei, der sich jahrelang in den Fall verbissen hat, «ich kann ihn nicht finden.» Die Angehörigen der Sonderkommission hätten nicht nur enormen Aufwand betrieben und mit bis zu sechzig Mann allein in Nürnberg an dieser Mordserie gearbeitet, sie hätten sich auch immer wieder selbst hinterfragt, Hypothesen erwogen und verworfen, Ideen gedreht und gewendet, kreuz und quer gedacht. Durch viele «Wellentäler» seien sie gegangen, schließlich hätten sie trotz aller Bemühungen ein «Gefühl der Ohnmacht» verspürt und an sich selbst zu zweifeln begonnen. «Wenn man so lange ermittelt und keinerlei Erfolgserlebnis hat, wenn man sieht, wie viele Energien verpulvert werden, und es kommt nichts dabei raus – das nagt ungeheuerlich.» Ja, erklärt der Polizist, er wisse, dass sich die Bilanz all dieser Mühen in sechs Worte fassen lasse: «Wir haben den Fall nicht geklärt.» Und doch sei er «persönlich zutiefst überzeugt, dass wir gut gearbeitet haben». Zwei Kollegen sitzen neben ihm bei diesem Gespräch im weitläufigen Gebäudetrakt der Behörde am Nürnberger Jakobsplatz, bei den Worten «gut gearbeitet» nicken sie zustimmend.
«Im Jahr 2000 war die Lage vollkommen unklar», erklärt der Ermittler, «wir mussten in alle Richtungen schauen.» Dass dabei auch die Familie des Ermordeten ins Visier geriet, sei völlig normal, bei den meisten Morden handle es sich schließlich um Beziehungstaten. «Es wäre schlichtweg unprofessionell, wenn man das nicht konkret überprüfen würde.» Aber haben sich die Ermittler je klargemacht, dass sie den Angehörigen, die gerade ihren Mann, Schwager, Vater verloren hatten, mit diesem Vorgehen nur noch tiefere Wunden schlugen? Der Mann nickt. «Uns ist vollkommen bewusst, dass dieser Gegensatz ein Stück weit unauflöslich ist.» Deshalb hätten sie sich bemüht, als der Verdacht gegen die Familie sich im Lauf der Zeit zerstreute, die Familien Simsek und Bas nicht allein zu lassen: Ein Beamter habe phasenweise «reine Betreuungsarbeit» geleistet.
Das stimmt. Wahr ist allerdings auch, dass dieser Beamte erst im Jahre 2006 in die Arbeit der Besonderen Aufbauorganisation Bosporus einstieg, in jenem Jahr also, da die Ermittlungen nach dem achten und neunten Mord noch einmal intensiviert wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt aber, fast sechs Jahre lang, hatten die Polizisten fast ausschließlich im Umfeld von Enver Simsek ermittelt.
Dass Rechtsextremismus das Motiv sein könnte, betont der Ermittler, darüber hätten sie sehr wohl nachgedacht. Schon ganz früh «haben wir das auch mit der Familie besprochen, vom ersten Tag an hatten wir
Weitere Kostenlose Bücher