Schmerzspuren
eingekochter Marmelade spielen. Jetzt wird es ernst. Vielleicht können wir ja auch hier im Jugendhaus unser erstes Konzert geben. Das hätte doch was.«
Ich rede mir selber Mut zu.
»Wir machen uns das richtig nett. Wenn hier erst mal meine Schießbude und die Verstärker drinstehen, sieht das schon ganz anders aus. Noch ein paar schrille Bilder an die Wand und die Show kann beginnen.«
So richtig überzeugend klinge ich noch nicht.
»Vielleicht sollten wir erst mal ein paar Duftkerzen aufstellen. Der Muff ist ja grässlich«, mischt Benny sich ein.
»Wie seid ihr denn darauf?«, mischt sich Max ein. »Wollt ihr hier einen Mädchengeburtstag feiern oder was?«
»Schluss. Ich kauf ein paar Wunderbäumchen an der Tanke«, bestimme ich. Meine Stimme ist lauter als beabsichtigt. Die Jungs sollen einfach nur das Maul halten.
Auf dem Rückweg versuchen Benny und Tom, mich noch umzustimmen. Max ist im Jugendhaus geblieben. Bei mir im Keller sei es doch super. Was ich denn plötzlich habe? Im Winter wäre es in dem neuen Probenraum bestimmt arschkalt. Im schlimmsten Fall gebe es Mäuse, die die Kabel anknabbern. Ich lasse alles an mir abperlen. Ich will das nicht hören und sie hören nicht auf. Andere wären super glücklich, wenn sie so einen Probenkeller wie ich hätten. Die beiden sitzen mir im Bus gegenüber und faseln abwechselnd auf mich ein. Ich weiß nicht mehr, bei welchem Wort es in meinem Kopf klick macht. Vielleicht war es bei »Und deine Ma ist
doch supernett. Diese dicke Biene bringt uns bestimmt nichts zu trinken«.
In meinem Kopf platzt ein Ballon.
»Perfekt. Dann könnt ihr ja weiter meine Mutter besuchen und mit ihr eine Blockflötenband oder so was gründen. Und Max und ich machen richtige Mucke. Zwei Saitenquäler wie euch finden wir bestimmt schnell.«
Ich steige aus. Viel zu früh. Fünf Stationen muss ich laufen. Ich laufe nicht. Ich renne, um diese Scheißwut loszuwerden.
2.47 Uhr und ich kann nicht mehr einschlafen. Ich kann noch nicht mal mehr liegen. Hol mir ein Glas Wasser, guck leise, ob im Fernsehen noch was läuft. Nur fiese Werbeclips mit einprägsamen Telefonnummern. Ich mach mir ein Brot und lande an meinem Schreibtisch. Vielleicht sollte ich doch mal Philipp schreiben. Ist ja albern so. Ich bin schließlich kein beleidigtes Mädchen. Also fange ich an mit »Hallo Phil«. Das war sein Spitzname. Zusammen waren wir Phil Collins. Er »Phil« wegen des Namens und ich »Collins«, weil ich ja Schlagzeug spiele. Stundenlang haben wir uns Videos von den Konzerten angeguckt und mitgesungen. Ganz früher haben wir Plastikschüsseln von meiner Mutter um uns rum aufgebaut und wie wild drauf getrommelt. Und natürlich gegrölt. Bei dem Song »Mama« ist tatsächlich mal meine Mutter reingekommen. Völlig atemlos. »Was ist denn?«, hat sie geschrien. Ich hätte mir echt fast in die Hose gemacht vor Lachen. War kurz davor, eine der Schüsseln umzudrehen, um reinzupinkeln. Das wäre mir vor Philipp nicht mal peinlich gewesen. Als er damals in der Grundschule plötzlich neben mir saß, fand ich
ihn super schnarchig. Er hatte immer komische und extrem uncoole Klamotten an und war in den Pausen nie mit auf dem Bolzplatz. Dem konnte der Ball vor die Füße fallen, der wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, ihn zurückzuschießen. Aus irgendeinem doofen Grund musste ich ausgerechnet mit ihm zusammen in der Ferienaktion eine Stadtrallye machen. Weil ich ein bisschen zu spät gekommen war, stand nur noch Philipp ohne Partner da. Mir war klar, dass ich mit diesem Langweiler niemals punkten würde. Und ich war kurz davor, ein Mädchen zu fragen, ob es mit mir ein Team bilden wollte. Aber das war mir auch zu blöd. Ich weiß noch, was Philipp und ich für einen Spaß auf dieser albernen Rallye hatten. Philipp war total witzig. Und von dem Tag an mein bester Freund. Bis vor ein paar Wochen. Da hat er sich verpisst. Tschüssikowski. Ich nehme einen Edding, streiche »Hallo Phil« fett durch und greife nach meinem Mathebuch. Das ist mit Sicherheit sinnvoller. Meine Augen lesen und meine Hände spielen mit dem Zirkel. Die Spitze pikst in meinen Handballen. Ich drücke ein bisschen tiefer. Noch ein bisschen tiefer. Als ich die Spitze langsam rausziehe, löst sich irgendwas. In mir wird es stumm. Fühle mich wie ein Fahrradschlauch, der zu prall aufgeblasen war und jetzt ein bisschen entspannt. Mit einem alten T-Shirt um die Hand schlafe ich ein.
Ich geh früh zur Schule. Will unbedingt Tom
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