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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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zum Ausgang, auf fünf von ihnen klebt Kaugummi.
    ***
    Jahrelang musste ich nie allein nach Hause gehen, egal wo wir wohnten, weil Oren immer dabei war. Im Herbst, in Minnesota, als überall die Blätter fielen, ließ er mich vorangehen und schubste mich dann plötzlich in einen der großen Blätterhaufen, die die Leute auf ihren Rasen aufgetürmt hatten. Zu Hause pflückte Mom all die Blätter aus meinem Haar und von meinem Pulli, während ich vor dem Fernseher saß, und Oren brachte mir Kekse zur Wiedergutmachung.
    Er hatte einen großen Weidenkorb voll mit Baseballkappen, die er gesammelt hatte, seit er klein war. Baseball mochte er schon immer. Die Käppis hatte er nach einem bestimmten System geordnet, also wusste er genau, wenn ich sie angefasst hatte. Manchmal ging ich in sein Zimmer, wenn er nicht da war, wenn er mit seinen Freunden im Keller saß oder in der Küche Musik hörte, und warf die Baseballkappen in seinem Zimmer herum, nur um ihn zu ärgern.
    Ich wusste immer genau, wann er meine Schandtat entdeckt hatte, denn dann erklang ein Wutgebrüll, und ich hörte seine stampfenden Schritte, wenn er kam, um sich an mir zu rächen. Dad setzte uns dann immer einander gegenüber, im Schneidersitz auf dem Teppich, und bestand darauf, dass wir uns entschuldigten. Mom stellte sich neben ihn und nickte bekräftigend. Sie sagte immer: Ihr beide habt solches Glück, dass ihr euch habt. Also umarmt und vertragt euch . Zum Abendbrot hatte er das Ganze vergessen, seine Käppis lagen wieder im Weidenkorb, genau wie er es wollte.
    Jetzt halte ich immer den Atem an, wenn ich zu Hause an seinem Zimmer vorbeigehe. Ein Teil von mir hat Angst, zu laut zu atmen und seine Käppis in Unordnung zu bringen. Niemand hat sie seither angefasst, niemand hat überhaupt irgendwas in dem Zimmer berührt.
    Wir haben alle gedacht, dass er zurückkommen würde. Ein halbes Jahr bevor er für immer verschwand, war er öfter mal ein paar Tage lang fort gewesen. Aber immer kam er nach Hause zurück, ohne ein Wort der Erklärung, als ob das ganz normal wäre, und um Mom, Dad und mir zu zeigen, dass es für ihn keine Rolle spielte, ob wir uns Sorgen um ihn machten. Und dann vergingen Wochen. Und dann Monate. Wir dachten immer noch, dass er zurückkommen würde: Vielleicht hatte er Cleveland verlassen, vielleicht war er im Ausland, aber irgendwo musste er sein und atmen. Wir waren ganz sicher.
    Wir lagen so falsch.
    ***
    Meistens gehe ich auf dem Nachhauseweg die Oak Street entlang, eine gerade Straße mit sauberen Bürgersteigen, an denen große neue Autos parken. Eine kalte Märzbrise fährt durch die Bäume, und ich suche in meinen Jackentaschen nach den flauschigen blauen Fäustlingen, die Mom Weihnachten vor drei Jahren für mich gestrickt hat. Meine Hand berührt zufällig Sapphires Schmetterling in der Tasche. Ich habe mir angewöhnt, ihn bei mir zu tragen, wenn ich das Haus verlasse.
    Das alte Plastikrentier im Nachbargarten ist umgefallen. Und ein paar Häuser weiter müssen die Lowmans ihr Auto gewaschen haben, denn es glänzt.
    Die Wintersonne geht schon unter und wirft lange Schatten von den Veranden. Alle Häuser sind von einem rotorangefarbenen und dunkelblauen Schein umgeben.
    Neun Raben sitzen auf dem Telefondraht, der hoch über meine Straße gespannt ist, neun perfekte schwarze Umrisse. Einer entfaltet seine Flügel, als ob er losfliegen wolle, tut es aber nicht. Er setzt sich wieder, und die neun Vögel – eine sichere, volle, tröstliche Zahl – rücken näher zusammen, eine Familie von eng miteinander verbundenen Schatten. Ihr Anblick wärmt mein Herz, es ist genau wie samstagmorgens, als ich noch klein war und als Erste aufwachte. Eingewickelt in meine flauschige hellblaue Decke, guckte ich Zeichentrickfilme, bis die anderen aufstanden und aus der Küche das Geräusch von Eiern, die geschlagen wurden, das Zischen und Knistern von gebratenem Speck und das Gurgeln der Kaffeemaschine drang: warme, buttrige, erdige Gerüche.
    Beim Näherkommen sehe ich ein Paket auf unserer Veranda – ein klumpig wirkendes dunkles Ding – wahrscheinlich irgendetwas für Dad, von der Arbeit. Viele Unternehmen, denen er bei der Umstrukturierung hilft, schicken ihm ihre Erzeugnisse per Post, ein pflichtbewusstes Dankeschön. Früher schenkte er den Kram Oren und mir. Wir bauten Brücken aus Kullikappen und Roboter aus Schlüsselanhängern mit Taschenlampe und aus Kühlhüllen für Flaschen. Unsere Eltern haben alles aufbewahrt, was wir

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