Schmetterlingsjagd (German Edition)
angerufen habe. Vielleicht hilft es, wenn ich mit ein paar Leuten spreche, die sie kannten.»
Es fällt mir nicht schwer, diese Lügen aufrichtig klingen zu lassen. Das Schuldgefühl ist ja echt. Schuld ist immer echt. Ich verlagere mein Gewicht auf die Ferse und spüre, wie der zerknitterte Zettel darunter gegen meine Socke drückt, um mich daran zu erinnern, dass, egal wohin ich gehe, egal was ich tue, es immer eine Sache gibt, die ich niemals ungeschehen machen kann.
Flynt starrt mich an, mit einem Blick, der mich zurückweichen lässt. «An deiner Stelle würde ich nicht allzu große Hoffnungen in die Mädchen im Tens setzen.» Seine hübschen Grübchen sind verschwunden, und er sieht jetzt ganz ernst aus. «Die Sache mit Stripperinnen ist die: Wenn du kein Kunde bist oder Cocktails servierst, haben sie absolut kein Interesse daran, mit dir zu sprechen. Du würdest deine Zeit verschwenden.» Er steht auf und wirkt plötzlich sehr geschäftsmäßig. «Wir sollten zusehen, dass du deinen Bus erwischst. Ich muss im Malatesta’s noch was fertig machen, und es wird schon dunkel.»
Mit diesen Worten dreht er sich um und geht zum Treppenhaus. Ich folge ihm und fühle mich genau wie die Luft, die gerade aus mir gewichen ist.
Tip tip tip, Banane. Ist mir doch egal, ob er es bemerkt oder nicht. Schweigend verlassen wir das Gebäude. Flynt macht keine Witze mehr über Treppenhausmonster oder riesige Löcher in den Stufen. Er schaut sich nicht einmal mehr nach mir um. Draußen fühlt sich die Dunkelheit unendlich an.
«Also, soll ich dich zur Bushaltestelle bringen?», fragt Flynt rundheraus, und man merkt, dass er hofft, dass ich nein sage.
Es kann sein, dass ich mich verlaufe, aber ich möchte nicht, dass er bei mir bleibt, wenn er es eigentlich nicht will.
«Nein», antworte ich. «Alles in Ordnung. Ich schaff das schon.»
«Sicher?»
«Ja, ganz sicher.» Ich ziehe das Handy aus der Tasche und tue so, als ob ich eine SMS lese, die es gar nicht gibt. Ich wette, dass Flynt das ärgert. Hoffentlich. «Mein Freund … äh … Jeremy … hat mir grad geschrieben, dass er hier in der Gegend ist. Also alles in Ordnung. Ich treff mich dann mit ihm.»
«Oh. Okay. Glaubst du, dass du bald mal wieder hierherkommst?»
«Weiß ich nicht.»
Flynt reibt sich die Stirn unter der Bärenmütze und seufzt.
«Hör mal, Lo, es tut mir leid, wenn es dir nicht gefallen hat, was ich dir über das Tens gesagt habe. Aber es ist die Wahrheit.»
«Ja. Danke.» Ich schaue ihn nicht an. Ich werde nicht nachgeben. Stattdessen betrachte ich meine Jackenärmel. Sie sind schmutzig, voller roter Farbe, Flynts Fingerabdrücke. Vor kurzem habe ich mich darüber noch gefreut, jetzt nicht mehr. Jetzt ärgere ich mich, es regt mich richtig auf. «Ich geh dann mal, okay? Jeremy wartet auf mich.»
«Ja, ich auch. Hab noch ’ne Menge zu tun.» Er versetzt mir mit dem Handrücken einen Klaps auf die Schulter, als ob nichts passiert wäre. «Lass mal von dir hören, Lo. Komm bald mal wieder. Echt. Du weißt ja, dass ich hier bin.»
Flynt macht eine grüßende Handbewegung und geht in die entgegengesetzte Richtung zum Malatesta’s. Auf dem Weg zur Bushaltestelle befühle ich die getrocknete Farbe auf meiner Jacke und versuche, mir die Straßenschilder zu merken. Ich hätte Sorge, dass meine Mutter wütend darüber werden könnte, wenn ich nicht wüsste, dass sie es eh nicht merkt.
Dreizehneinhalb Häuserblocks bis zur Bushaltestelle. Links auf der Eastern Avenue. Rechts auf der 117. Straße. Vielleicht hatte Flynt recht. Vielleicht wollte er wirklich nur helfen. Aber als ich Sapphire erwähnte, hatte ich das Gefühl, einen unsichtbaren Schalter in ihm umgelegt zu haben. Plötzlich wurde er ein ganz anderer Mensch – ausweichend und nervös. Und ein bisschen gemein.
Er hat gesagt, dass ich hübsch bin.
Er ist ein Lügner.
Ich befühle erneut die Farbspuren auf meiner Jacke. Sechs Streifen. Ich habe seine Hände vor Augen. Seine langen Finger.
Wenn ich das Bild nur auslöschen könnte. Aber jetzt hat es sich eingeprägt.
Sechs Streifen. Für immer und ewig.
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Kapitel 7
Am nächsten Tag zieht sich der Unterricht wie immer, aber ich bin zu abgelenkt, um mich zu langweilen. Warum hat Flynt so getan, als kenne er Sapphire nicht?
Fast die ganze Englischstunde hänge ich meinen Gedanken nach. Sidney Lourie und Brigid Crank, die Mädchen mit den seidig glatten blonden Haaren und den muskulösen Freunden, ergehen sich
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