Schmetterlingsjagd (German Edition)
wieder: Sie jault in meinem Kopf, mit offenem Maul, starr vor Angst. Mein Magen wölbt sich nach oben und rollt sich dann zusammen wie ein kleines verängstigtes Tierchen. Der Vorhang bläht sich, als ob jemand von außen hineingeboxt hätte. Ein schwaches Lichtquadrat fällt auf den Boden und verschwindet wieder mit dem Wind.
Ich sehe Sapphires wunde Lippen wie ein Muster überall an den Wänden. Sie flackern im Schein der Taschenlampe. Ich blinzle, dann sind sie fort und Sapphire ebenfalls. Ich wedele mit der Hand in der Luft herum. Spürst du mich? , frage ich sie in Gedanken und warte auf ein Zeichen. Bist du hier irgendwo?
Flynt wedelt auch mit der Hand in der Luft herum, er macht mich nach. «Herrje, ist das kalt», sagt er. «Ich schau mich mal um, okay?» Er geht voran und leuchtet mit seiner Taschenlampe in die Ecken, an die Wände, auf die Böden.
«Mir ist auch kalt», sage ich zu seinem Rücken. Ich schalte die Taschenlampe ein und gehe dicht hinter ihm her, biege dann aber nach links ins Wohnzimmer. Er geht weiter in eine andere Richtung.
Das Merkwürdigste an der Sache ist, dass alles total normal wirkt. Da steht eine lange blaue Couch, eine Strickdecke ist über die Kissen geworfen, als hätte dort gerade jemand ein Nickerchen gehalten, ein zur Hälfte gefülltes Wasserglas mit dunklen Lippenstiftspuren steht auf dem kleinen Klapptablett daneben. Ein Teppich mit chinesischem Drachenmuster liegt ein wenig schief auf dem Holzboden, ein Paar schwarze Ballerinas stehen vor dem Fernseher.
Mein Körper lenkt mich zum Klapptablett, zu dem Glas mit den Lippenstiftspuren. Von ihren Lippen. Ich strecke die Hand danach aus, erwarte Wärme, so als hätte sie gerade erst einen Schluck genommen und sei dann aufgestanden, um etwas aus einem anderen Zimmer zu holen. Halb erwarte ich, dass sie jede Sekunde zurückkommt und mich erwischt – eine vollkommen Fremde –, wie ich mitten in ihrem Wohnzimmer stehe.
Aber dann fällt mir wieder ein, dass sie das nicht tun wird. Sie kann es nicht.
Sie wird es nie wieder tun.
Und ihr Lippenstiftabdruck auf dem Glasrand ist nicht warm. Er ist kalt.
Quiiietsch: Ich zucke zusammen, meine Hand fährt zur Brust. Quiiietsch quieeetsch – immer wieder, weiter den Flur herunter. Mein Herz schlägt schneller.
«Flynt?», rufe ich. Keine Antwort.
Mein Magen: ein flauer Knoten voller Rasierklingen. Er drückt. Scharf. Etwas summt jetzt. Eine Stimme – Sapphire? Bist du da ?
«Ich geh mal die Treppe hoch, Lo!», dringt Flynts Stimme zu mir herunter.
Ich atme aus, aber die Panik bleibt. Dunkle Wellen schlagen über mir zusammen, sie treiben mich aus dem Zimmer und in das nächste hinein.
Das Badezimmer: In ihrem Spiegelschrank stehen fünf verschiedene Parfümpröbchen in zarten Glasfläschchen. Ich stelle mir vor, wie sie hier steht und sich von jedem etwas auf den Nacken tupft, auf die Handgelenke. Ich nehme das in der Mitte und lasse es in meiner Tasche verschwinden. Mehr von ihr, ich will mehr von ihr.
Eine kleine Vogelzeichnung fällt mir ins Auge. Sie hängt über der Toilette. Sie gefällt mir, sie erinnert mich an die, die sie an ihren Spind im Tens geklebt hatte. Ob sie wohl vom selben Zeichner ist? Vogel. Bird. Sapphire hat zwei Fotos über den Lichtschalter geklebt. Auf dem einen steht sie mit Marnie offensichtlich an einer Bar, halb abgewandt von der Kamera, auf der anderen ist sie mit einem Mädchen zu sehen, das ich nicht kenne.
Ich gehe weiter. Die Küche: gelbe Wände, getrocknete Blumen in Weckgläsern, Cornflakesschachteln und Fruitloops stehen auf dem Kühlschrank. Daran kleben Magneten mit Werbelogos hiesiger Unternehmen, ein Klebezettel, auf dem «Wäsche!!» in mädchenhafter Schrift steht, mehr Fotos von Sapphire und ihren Freunden sind danebengeheftet. Mit der Taschenlampe leuchte ich jedes einzelne Foto an. Auf jedem trägt sie diesen blauvioletten Lippenstift. Irgendwie beunruhigt mich das. Wo ist bloß ihr Lippenstift?
Von oben ertönt ein Rumpeln, so als ob Flynt irgendetwas umgestoßen hätte. Eine Sekunde später höre ich seine Stimme, fern, dumpf: «Hier oben ist nichts. Außer einem Haufen cooler Sachen.»
Ich gehe zurück in den Flur und in das Zimmer, das ihr Schlafzimmer gewesen sein muss – also direkt in das Zimmer, in dem sie umgebracht wurde. Zu dem Fenster, das von innen mit der Kugel zerschossen wurde, die meinen Kopf nur um Zentimeter verfehlt hat. Ich habe es bisher vermieden hineinzugehen. Die Tür ist nur leicht
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