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Schmetterlingsjagd (German Edition)

Schmetterlingsjagd (German Edition)

Titel: Schmetterlingsjagd (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Ellison
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angelehnt. Ich leuchte mit der Taschenlampe hinein.
    Wie erstarrt stehe ich da und nehme die blauen Wände, den Teppich, die Möbel wahr, die ich durch das Fenster auf den pixeligen Handyfotos im Blog gesehen habe. Die Plastikjalousien über ihrem Fenster sind nur halb heruntergezogen und lassen einen dünnen Lichtstrahl von der Straßenlaterne hereinfallen. Der Wind bläst durch die zerbrochene Scheibe, über die Polizeiband geklebt wurde. Er lässt die Jalousien leise schwingen und gegen die Wand klacken.
    Tip tip tip, Banane.
    Die Luft hier ist schwer, irgendwie belastend, angefüllt von einem metallischen Geruch. Es ist, als vibriere sie. Genauso fühlt es sich an, wenn man in Orens Zimmer geht. Wir können die Teilchen spüren, aus denen er bestand. Sie schweben in der Luft. Teilchen, die nie wieder ein Ganzes ergeben werden.
    Deshalb betreten wir sein Zimmer nicht mehr. Wenn wir es täten, würden wir wie verrückt herumrennen und versuchen, seine Teilchen einzusammeln, um sie wieder zusammenzusetzen. Dann würden wir ihm sagen: Wir lassen dich nie wieder gehen. Bleib hier. Bleib hier. Bleib hier.
    Und dann würde er verschwinden. Und wir würden wieder allein sein und sein leeres Bett anstarren.
    Ich spüre, dass Sapphire sich um mich herum zusammenzieht, so als ob sie meine Hand nehmen, mich fest umarmen und sagen wollte: Nichts wie ran. Denn so eine Art Mensch war sie, das spüre ich.
    Sechs tiefe Atemzüge. Zwei Plüschteddys auf ihrem Bett. Drei Kissen. Ein Spritzer Blut an der Wand. Sapphires Blut. Sapphires Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf, der Schuss, die Katze, Oren, eine berstende, grauenvolle Faust, die aus dem Teppich schießt und alles in ihrem Griff hält.
    Ich schließe die Augen und öffne sie sofort wieder. Der erste Gegenstand, auf den mein Blick fällt, ist ihr Schrank links vom Bett. Eine dunkle kleine Höhle, vollgestopft mit bunten Klamotten. Ich trete hinein und lasse den Schein meiner Taschenlampe über die dichte Wand aus Stoff gleiten – glitzernd, funkelnd, aufsehenerregend – Röcke und Kleider und Blusen mit kompliziert aussehenden Häkchen und Reißverschlüssen in der Mitte. Ich finde ein samtig schwarzes, mit Strass-Steinchen besetztes Bustier und streiche mit den Fingern darüber – eine Allianz aus Hart und Weich. In mir steigt der Drang auf, es mitzunehmen, aber es fühlt sich anders an als der Zwang, die drei kleinen Gipsfröschchen von ihrem Tisch zu nehmen – was ich tue, mit klopfendem Herzen und vor Scham und Hochgefühl brennenden Wangen. Der Drang, das Bustier mitzunehmen, ist langsamer, nüchterner.
    Sie hat dieses Bustier getragen. Sie ist hineingeschlüpft, hat darin geschwitzt und gegessen und gelebt. Das bedeutet es. Daran werde ich denken, wann immer ich es berühre, Sapphire, wenn es mir gehört. Ich öffne den Reißverschluss meines Rucksacks und stopfe es zusammen mit den Fröschen hinein. Meins. Unser.
    Wir müssten noch so viel durchsuchen, aber wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt, bevor jemand, ein Nachbar oder ein Passant, unsere Taschenlampen hinter den Fenstern aufblitzen sieht und die Polizei ruft.
    Auf dem Weg zu ihrem Tisch gehe ich an dem Blutfleck auf dem Teppich vorbei. Er ist immer noch da, ein getrockneter, geisterhafter Umriss. Ich sauge neun Mal meine Wangen ein. Ein und aus. Ein und aus. Ein. Wie aus der Ferne höre ich Schritte. Flynt muss wieder heruntergekommen sein.
    Auf ihrem Tisch herrscht ein wildes Durcheinander: Stapel alter Moleskinnotizbücher, abgewetzter Planer und lustiger selbstgezeichneter Kalender. Ich schlage einen auf und blättere ihn durch. Einzelne Zettel rutschen heraus und fallen auf den Teppich. Sie sind völlig ungeordnet, lose herumliegende Terminnotizen, einzelne Zettel aus unterschiedlichen Jahren. Ich kann kaum noch atmen, so aufgeregt bin ich. Sie hat mich hierhergeführt, zu diesem Schatz. Ich weiß es. Sie hat die Wellen geschickt, die mich hierhergetragen haben. Sie hat gewollt, dass ich dies hier finde, ich kann es spüren .
    Ich stopfe das letzte ihrer Notizbücher in meine Tasche und will gerade nach Flynt rufen, als mein Blick plötzlich auf ein letztes, großes, zerknittertes Blatt Papier fällt. Ich streiche es glatt: eine Tintenzeichnung. Ich blinzele und schaue es mir genauer an – ovales Gesicht, dunkle Augen, dunkle Lippen – das ist sie. Es ist Sapphire.
    Ich richte den Schein der Taschenlampe direkt darauf. Das Bild ist wunderschön. Elegant. Starke Linien, viel Schatten.

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