Schmetterlingsjagd (German Edition)
Telefonzelle, Baby. Wundersamerweise gibt es die noch …»
«Aber … woher hast du meine Nummer?»
«Du hast sie mir gegeben, Lo! An unserem ersten Tag!» Ich höre seinen Atem im Hörer, sanft und gleichmäßig. Er hat recht, das habe ich getan. Ein Bild aus meinem dummen Abschlussballtraum taucht vor meinem inneren Auge auf. Sein Mund. Seine großen, geraden Zähne. Ich tippe mit der Zunge neun Mal gegen den Gaumen und schlucke dann drei Mal hintereinander. Es ist nicht wirklich. Es wird niemals Wirklichkeit werden.
«Hast du von Vinnie gehört?»
«Vinnie?», frage ich verwirrt.
«Der Türsteher im Tens. Er ist heute für den Mord an Sapphire verhaftet worden. Hier in Neverland spricht gerade jeder darüber. Also, es ist vorbei. Wir sind frei, Königin Penelope!»
Ich räume schnell meinen Computer frei und klemme das Telefon zwischen Kopf und Schulter fest. Eine neue Google-Suche: Cleveland Neverland Mord. B. HORNETS NEVERLAND VERBRECHENSBLOG taucht mit einer neuen Headline in schreiendem Rot auf: Festnahme im Mordfall: Sapphire, neunzehn.
Klick: Der Artikel lädt; ich halte den Atem an.
4.10 Uhr, 8. April 2010
Von: Mark Stanton, Händler aus Cleveland
CLEVELAND – Die Polizei nahm heute Nachmittag einen Mann fest, der verdächtigt wird, ein Mädchen aus der Gegend umgebracht zu haben. Ihr Name war Sapphire (Nachname unbekannt). Das Opfer arbeitete als Tänzerin im Tens, einem Neverland-Club im Block mit der Hausnummer 2100 in der East 119. Street, wo der Verdächtige, Vincent Navarro (43), als Türsteher arbeitete.
Die Beamten griffen Navarro gegen 3 Uhr nachts bei der Arbeit auf, nachdem sie beweiskräftige DNA-Spuren am Tatort im Haus des Opfers gefunden hatten.
Navarro war bereits 1998 für bewaffneten Raubüberfall zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Im Jahr 2000 wurde er auf Bewährung freigelassen und hat seitdem im Tens gearbeitet.
Also war es er – der Türsteher –, und nun ist er fort. Im Gefängnis, wo er hingehört. Und ich muss mir keine Sorgen mehr machen. Ich sollte mich leicht fühlen. Ich sollte mich frei fühlen.
Und warum tue ich das nicht? Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmt? Als ich ihn nur einen Häuserblock von unserem Zuhause sah, sprach er gerade mit jemandem am Telefon. Mit wem musste er in diesem Moment sprechen?
«Hallo, Lo? Bist du noch da? Shit, hab ich etwa nicht genug Geld reingesteckt? Hallo?»
«Ich bin noch da, ich bin noch da. Ich kann … ich kann es nicht glauben. Ich …»
«Komm, wir treffen uns in zwei Stunden. Am Vogelbad?»
Ich zögere und lausche dem leisen Knacken in der Verbindung, dem Verkehrsrauschen am anderen Ende. Die Vorstellung, mit dem Bus allein nach Neverland zu fahren, jetzt, wo es gerade dunkel wird, ist nicht gerade verlockend. Langsam ärgert es mich, dass ich immer zu ihm fahren muss.
«Komm doch hierher. Nach Lakewood», sage ich schließlich.
«Nein», sagt er sofort. «Ich hab’s dir ja gesagt. Ich verlasse Neverland nicht. Niemals. Und ich muss hier noch ein paar Dinge regeln, also, in zwei Stunden.» Er hält inne. «Komm einfach her, okay? Ich hol dich von der Bushaltestelle ab.»
Ich zögere. Aber egal, was ich jetzt tue, immer wenn ich die Augen schließe und auch wenn ich sie wieder öffne, sehe ich alles – die Katze, mein gerötetes Gesicht, den Türsteher, wie er sich in die finstere Ecke drückt, Sapphires dunkle Lippen, die ganz blau sind – und Flynt ist der einzige Mensch, mit dem ich darüber sprechen kann.
«Gut. Zwei Stunden», sage ich und lege auf.
Der Türsteher. Vincent Navarro. Ich warte, dass mich das aufheitert, dass mein Herz aufhört zu pochen. Aber irgendwie tut es das nicht.
Ich streiche mir die Ponysträhnen aus dem Gesicht, drei Mal, und werfe einen schnellen Blick in den Spiegel. Sapphires Bustier schaut immer noch aus dem Ausschnitt meines blaubeerfarbenen Hemdes, das sich dunkel gegen meine blasse Haut abhebt. Ihr Gesicht huscht über meins, und plötzlich, nur eine Sekunde lang, sind wir ein und dieselbe Person. Umeinandergewickelt. Wir atmen gemeinsam. Lebendig.
***
«Eure Hoheit», sagt Flynt und erhebt sich von der gummibezogenen Bank der Bushaltestelle, um sich zu verbeugen. Seine Bärenohren sitzen ein bisschen schief und sehen im Schein der Straßenlaterne ziemlich abgewetzt aus. Tip tip tip, Banane. Ich will mich eigentlich ebenfalls verbeugen und irgendetwas Witziges sagen, aber meine Ponysträhnen nerven mich. Also antworte ich
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