Schmetterlingsjagd (German Edition)
zerknitterte Zettelchen aus dem linken Schuh heraus und reiche es ihm. Verwirrt entfaltet er es.
Früher standen in Tinte geschriebene Worte darauf, aber man kann sie nicht mehr erkennen. Ich habe sie zu oft gelesen, zu lange im Schuh getragen, so viel darüber nachgedacht, dass mein Hirn Löcher in das Papier gebrannt hat.
«Ich … ich weiß nicht, was das ist», sagt Flynt.
«Es ist von Oren», antworte ich und atme stoßweise. «Neunzehn Tage bevor er starb, hat er mir den Zettel geschrieben. Er brauchte Geld. Er wollte Hilfe. Und ich habe sie ihm verwehrt.» Flynt will etwas sagen, aber ich schüttele nur den Kopf und fahre fort. Er muss die Wahrheit erfahren. «Ich habe ihm geschrieben, dass ich keinen Kontakt zu ihm wollte. Erst wieder wenn er nüchtern wäre. Ich hätte etwas tun können. Ich hätte ihn retten können. Stattdessen habe ich … ich ihn sterben lassen. Ich habe ihn umgebracht.»
Jetzt ist es heraus: mein Geheimnis, mein dunkelstes Geheimnis. Mein Körper fühlt sich an, als ob er auseinanderbricht. Ich zupfe an meinem Haar. Zupfe. Zupfe. Zupfe. Aber das Gefühl verschwindet nicht, das Gefühl der Unausgeglichenheit. Alles löst sich auf.
Flynt legt den Arm um mich. Seine Berührung fühlt sich an wie Feuer, aber ich habe keine Kraft, ihn abzuschütteln. «Lo», sagt er, «es ist okay. Alles wird gut.»
«Nein», krächze ich, und jetzt fange ich an zu schluchzen. Meine Lungen sind mit Messern gefüllt – meine Rippen und mein Hals schmerzen. «Es ist nicht gut. Es wird nie mehr gut.»
Flynt nimmt mich in die Arme, drückt mich an sich, und ich zittere, weine und bebe, und alles ist so dunkel, als ob ich in einem einstürzenden Tunnel wäre. Ich lasse es zu, dass er mich an seine warme Brust drückt. Sein Kinn legt sich auf meinen Scheitel, und er flüstert: «Schsch, schsch, schsch», und sein Flanellhemd wird ganz nass von meinen Tränen, aber das scheint ihn nicht zu kümmern. Er lehnt sich mit mir im Arm zurück, sodass ich auf seiner Brust liege.
Seine langen warmen Finger streichen mir das Haar aus der Stirn, und ich atme scheinbar eine Ewigkeit in seine Brust. Ich vergrabe mich in die seidige Weichheit seines Hemds, der Duft von Gras, Pinien und Nelken steigt um mich herum auf, als stünde ich auf einem weiten, hoch bewachsenem Feld – und dann treibe ich, treibe ich an einen anderen Ort.
Sapphire liegt auf meinem Bett, auf ihrem Schoß sitzt die tote Katze. Sie streichelt sie und sagt dabei immer wieder «vier-dreißig-sieben».
Sie greift in die Luft und öffnet ihre Hand: Ein Lippenstift liegt darin. Sie öffnet ihn und streicht etwas davon auf meine Lippen. Die Katze verteilt ihr Blut auf meinem Bett, und als es von ihrem Hals auf den Teppich tropft, verwandelt sich das Blut plötzlich in der Luft zu einem Schmetterling – zu dem Schmetterling – glitzernd, mit zusammengefalteten Flügeln, den Kopf gesenkt; ich bücke mich, um ihn zu fangen, bevor er davonflattert, aber als ich wieder hochschaue, bin ich mit Oren zusammen, wir sind in unserem Keller in Gary, Indiana.
Wir wühlen uns durch unsere Verkleidungskiste neben der großen Glasschiebetür und suchen nach den besten Hexenkleidern, die wir finden können; wir wollen zu Thanksgiving ein kleines Theaterstück für die ganze Familie aufführen. Draußen fängt es an zu schneien, und morgen haben wir schulfrei. Oren lächelt – er hat zwei Milchzähne oben und einen unten verloren. Dann zieht er ein langes violettes Kleid hervor, das mit winzigen weißen Sternchen übersät ist. Es hat einmal Mom gehört. «Ich hab deins gefunden, Lo! Das beste Ruby-Rainbow-Hexenkostüm der Welt!» Er rennt sofort zu mir, und er riecht nach Seife und Dreck und Schokolade – eben nach Oren –, und ich hebe die Arme. Er lässt das Kleid über meinen einteiligen Schlafanzug gleiten und nimmt mich in die Arme. «Ich wusste es. Du siehst wie eine echte Hexe aus, Lo.» Und dann drückt er mich fester, die Schneeflocken fallen, und es duftet nach Truthahn und Kamin. Die Erwachsenen klackern mit ihren Absätzen über den Fußboden, und ich höre, wie Mom ganz laut lacht. Alles ist warm.
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Kapitel 22
Einige Zeit später wache ich mit einem unheimlichen Gefühl auf – jemand beobachtet mich. Vorsichtig öffne ich die Augen.
Flynt hat sich einen Stuhl ans Sofa gezogen und schaut mich unverwandt an. Dabei bewegt er ein dünnes Stück Kohle über ein Blatt Papier. Es ist mir peinlich, dass er mich beim
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