Schmetterlingsschatten
gut an Lauras Tagebuch und daran, wie es plötzlich aus ihrem Zimmer verschwunden war. Wohin? In der letzten Woche hatte sie zu viel zu tun gehabt, um ernsthaft danach zu suchen, außerdem hatte sich auch überhaupt keine Gelegenheit ergeben. Aber heute konnte sie sowieso nichts anderes unternehmen. Zudem war ihre Mutter so in ihre Gartenarbeit vertieft, dass sie nichts merken würde.
Elena trat vom Fenster zurück, drehte sich um und ging langsam den schmalen, dämmrigen Flur entlang zu dem Zimmer ihrer Eltern. Es musste einfach ihre Mutter gewesen sein, die das Tagebuch weggenommen hatte, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Und Mark hatte schließlich auch gesagt, dass sie etwas wusste.
Das mache ich alles nur für Laura, sagte sich Elena wieder und wieder. Der Weg zu der Zimmertür kam ihr unnatürlich lang vor, als dehne sich der Gang vor ihr aus. Für Laura.
Trotzdem hatte sie ein ziemlich mulmiges Gefühl, als sie schließlich vor der Tür stand. Die Klinke fühlte sich unangenehm kalt in ihren Fingern an und beinahe erwartete Elena, dass die Angeln quietschen würden. Aber die Tür schwang lautlos auf und gab den Blick auf das Schlafzimmer ihrer Eltern frei.
Ihre Mutter hatte es geschafft, dem Zimmer ihren Stempel der Traurigkeit und Sorge aufzudrücken. Das große Doppelbett stand unter dem Fenster, in einer Flut goldenen Sommerlichts. Es war ordentlich gemacht, die Überdecke leuchtete in Blau- und Grüntönen, die mit dem dunkelblauen Teppich harmonisierten. Schrank, Nachttisch und Kommode bestanden aus hellem Holz, an den Wänden hingen gerahmte Fotos von Frühlingslandschaften.
Und dennoch war dieses Zimmer tot. Unwillkürlich fröstelte Elena. Dunkelheit hing über dem Raum, lauerte im Schrank, unter dem Bett, hinter der Kommode. Sie hat es nach Lauras Tod neu eingerichtet, ging ihr durch den Kopf. Sie hat so sehr versucht, Laura zu vergessen, dass sie stattdessen die Erinnerung an Laura in diesem Zimmer konserviert hat. All die bunten Farben werden sie immer daran erinnern, dass Laura nie mehr wiederkommt.
Sie musste tief durchatmen, bevor sie es wagte, das Zimmer zu betreten. Auf eine seltsame Weise war das hier viel schlimmer, als von dem Förderturm zu springen. Für Laura, dachte sie. Das half ein wenig.
Sie wusste nicht, wo sie suchen sollte. Zuerst zog sie die Schubladen des Nachttisches auf, aber die enthielten nur etwas Wäsche, Taschentücher und anderen Kleinkram. Dann sah sie in den Schrank, unter das Bett, sogar unter die Bettdecke. Nichts. Elena sah hinter die Stereoanlage, die auf der Kommode stand, warf einen Blick in das CD-Regal, zog ein paar Hüllen heraus. Nichts. Danach war der Nachttisch ihres Vaters dran, aber auch hier gab es nur Wäsche und ein paar Socken. Frustriert ließ Elena sich auf das Bett fallen. Sie würde hier wieder Ordnung machen müssen, bevor sie ging.
Nachdenklich ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern. Auf dem Schrank hatte sie noch nicht nachgesehen. Sie zog sich einen Hocker heran, der in der Ecke neben der Heizung stand, stieg darauf und streckte sich, bis sie mit den Fingerspitzen auf den Schrank langen konnte. Ihre Finger waren voller Staub, als sie die Hand zurückzog, aber sonst gab es nichts zu entdecken.
Enttäuscht brachte sie den Hocker an seinen Platz zurück. Als sie ihn wieder ganz in die Ecke schieben wollte, blieb er an der Heizung hängen. Missmutig drückte Elena noch fester, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Als sie ihn zurückzog, um ihn freizubekommen, fiel etwas mit einem lauten Klatschen zu Boden. Ein Buch. Ein Schauer durchlief Elena, als sie den farbenfrohen Einband erkannte.
Das Tagebuch. Sie hatte es in die Heizung gesteckt.Rasch hob sie das Buch auf, wischte etwas Staub herunter und steckte es in ihren Hosenbund unter ihr T-Shirt. Dann schob sie den Hocker zurück, machte das Bett, stellte die CD-Hüllen zurück und sah sich noch einmal um, ob sie irgendetwas vergessen hatte. Das Zimmer sah genauso friedlich und genauso tot aus wie vorher. Elena schlüpfte auf den Gang, zog die Tür hinter sich zu und rannte zu ihrem eigenen Zimmer. Dort schloss sie die Tür hinter sich ab, bevor sie sich auf die Bettkante setzte und mit zitternden Fingern das Tagebuch aufschlug.
Zunächst verstand Elena nicht, warum ihre Mutter das Tagebuch versteckt hatte. Die erste Hälfte enthielt nichts außer mäßig interessanten Einträgen über die Schule, die Familie und Lauras Herzenswunsch: Reporterin zu werden. Beinahe hätte sie
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