Schmetterlingsschatten
begann sie, sich zu fragen, was ihre Mutter von ihr wollte. Sie starrte auf ihre Füße. Unheimlich genau registrierte sie die feinen Linien, die die Metallschnalle in das Leder der Sandalen gegraben hatte.
»Und heute warst du nicht in der Schule.«
Sie schwieg.
»Warst du bei ihm? Hat er dich dazu überredet?«
»Nein.« Endlich hatte sie ihre Stimme wiedergefunden. »Ich… ich war in der Stadt und habe Mark besucht. Den Freund von Laura, weißt du? Er… liegt im Krankenhaus.«
Ihre Mutter nickte schwach. »Ich habe davon gehört.« Plötzlich hob sie ruckartig den Kopf und starrte Elena direkt in die Augen. »Hast du auch damit etwas zu tun? Mit dem, was ihm passiert ist?«
Verwirrt starrte Elena ihre Mutter an. Ihr fehlten die Worte. »Was, ich? Wie kommst du darauf?« Sie war so überrascht, dass ihr schlechtes Gewissen vorübergehend verschwand. »Warum sollte ich Mark zusammenschlagen?«
Ihre Mutter ließ den Kopf wieder sinken. »Warum solltest du? Ich weiß es nicht. Warum bist du mit diesem… diesem Tristan und seinen Freunden zusammen? Warum belügst du mich?«
»Mama…« Ihr fehlten die Worte. Fast wünschte sie, dass ihre Mutter ausrasten würde, schimpfen oder toben, nicht nur einfach dasitzen, so verloren und ängstlich. »Mama, wir sind doch nur befreundet. Die sind ganz in Ordnung, wirklich, wir tun nichts Schlimmes.« Aber sie wusste, dass das die Angst ihrer Mutter nicht vertreiben würde.
»Nichts Schlimmes.« Sie flüsterte nun beinahe. »Und dann wird dir auch etwas passieren und dann bin ich schließlich ganz alleine.« Ihr Tonfall ließ Elena schaudern. Es klang, als spreche ihre Mutter über eine längst beschlossene Tatsache. Als wäre Elena ebenfalls schon gestorben und begraben wie Laura.
Vorsichtig ging sie zu dem Bett hinüber und legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter. »Mama, mir passiert nichts. Ehrlich. Ich bin vorsichtig.«
»Laura hat das auch immer gesagt. Und dann ist sie gestorben.«
Es war das erste Mal, dass ihre Mutter so direkt von Lauras Tod sprach, seit sie damals Elena von dem Unfall erzählt hatte. Wieder durchlief Elena ein Schauer. Sie ließ sich neben ihrer Mutter auf die Bettkante sinken und dachte nach. Marks Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Deine Mutter weiß mehr. Er musste recht gehabt haben.
»Wann hat Laura das gesagt?«, fragte sie vorsichtig. »Mama, was ist damals wirklich passiert?«
Ihre Mutter seufzte. Sie setzte an, etwas zu sagen, und ließ es dann wieder bleiben. Schließlich wandte sie den Kopf und sah Elena wieder an.
»Sie hatte einen Unfall«, sagte sie ruhig. Elena konnte ihre blasse Haut und die dunklen Augenringe erkennen. Ihr war anzusehen, dass sie oft nächtelang keinen Schlaf fand. »Nur einen Unfall«, wiederholte sie, als wolle sie sich selbst davon überzeugen. Dann stand sie ruckartig auf.
»Du hast dieses Wochenende wieder Hausarrest. Vielleicht hält dich das davon ab, diesen Tristan zu sehen.« Ihre Stimme war wieder einigermaßen normal, ihr Gesicht entschlossen. Elena widersprach nicht. Das hätte ganz bestimmt nichts besser gemacht.
»In Ordnung«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, Mama.«
Doch ihre Mutter hatte das Zimmer bereits verlassen. Elena konnte ihre eiligen Schritte auf der Treppe hören. Sie ließ sich auf ihr Bett zurücksinken, starrte an die Decke und dachte darüber nach, was heute alles passiert war.
Kapitel 8
Das Haus lag scheinbar friedlich vor ihm, fast so, als könne er einfach hinübergehen und eintreten. Doch die Mutter arbeitete im Garten und er wusste, dass das Mädchen selbst irgendwo dort drinnen war. Zum hundersten Mal verfluchte er sich und die Ereignisse damals. Wie hatte es dazu kommen können? Wann hatte er dermaßen die Kontrolle verloren? Er konnte es nicht sagen. Sie hatten doch nur Spaß gehabt. Es war nicht seine Absicht gewesen, jemanden zu verletzen oder gar zu töten. Trotzdem war es geschehen.
Alles Lauras Schuld. Hätte er sie doch nie kennengelernt.
Nach dem Frühstück hatte sich ihre Mutter in den Vorgarten verzogen und jätete dort Unkraut. Elena konnte sie vom Fenster aus sehen.
Es wäre leicht gewesen, auf der Rückseite des Hauses aus einem Fenster zu klettern und zu Vivienne zu laufen, aber das schien Elena keine gute Idee zu sein. Das Verhalten ihrer Mutter gestern Nachmittag hatte sie mehr beunruhigt, als sie zugeben wollte.
Stattdessen hatte sie beschlossen, nach den Hinweisen zu suchen, von denen Mark gesprochen hatte. Sie erinnerte sich noch
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