Schmetterlingsschatten
waren Vanessa und ihre Freunde gewesen. Aber warum spionieren?
»Ich spioniere nicht!«, verteidigte sie sich, bevor ihr einfiel, dass sie nach Laura hätte fragen sollen. Bevor sie dazu kam, hatte sich Vanessas Mutter schon verabschiedet und aufgelegt. Elena wagte nicht, noch einmal anzurufen.
Stattdessen versuchte sie, ihren Vater in Afrika zu erreichen, aber er ging nicht ans Telefon. Wahrscheinlich hatte er wieder irgendetwas immens Wichtiges zu tun oder auf der Baustelle lief etwas schief und er hatte keine Zeit, sich um sein klingelndes Handy zu kümmern.
Enttäuscht legte Elena den Hörer wieder auf und ging in ihr Zimmer zurück. Zum hundertsten Mal betrachtete sie ihre Fotos. Es gab eigentlich keines, das ihren Vater zeigte, fiel ihr auf. Immer nur ihre Mutter, Laura und sie selbst oder Landschafts- und Tieraufnahmen. Immer war er es gewesen, der hinter der Kamera stand. Als gehöre er gar nicht in unser Leben, dachte sie niedergeschlagen, dabei ist er inzwischen der Einzige, auf den ich mich noch verlassen kann, den ich verstehe . Zumindest hatte er sie noch nicht angelogen, hatte keine Leute umgebracht oder Informationen vor ihr versteckt – soweit sie das wusste.
Gerne hätte sie jemanden gehabt, der ihr sagte, was sie jetzt tun sollte. Ihr war bewusst, dass sie irgendwas machen musste, sonst würde sie wahnsinnig werden, aber gleichzeitig fürchtete sie sich davor, was sie noch rausfinden würde.
Sie wandte sich von den Fotos ab und setzte sich an den Computer. Ein paar Stunden stupider Spiele waren vielleicht genau das Richtige, um sie jetzt abzulenken. Nicht sehr überzeugt klickte sie das Desktopsymbol für »Spell Force« an und startete eine neue Kampagne. Eigentlich sollte sie ihre Englischhausaufgaben machen, aber sie hatte absolut keinen Nerv dazu. Das musste warten bis nach dem Abendessen, wenn es sich wirklich nicht mehr länger aufschieben ließ.
Mehrfach sah ihre Mutter in ihr Zimmer, aber Elena tat immer so, als wäre sie völlig auf ihr Spiel konzentriert. Sie hatte keine Lust, sich zu unterhalten, keine Lust, etwas zu unternehmen. Sie hatte den Verdacht, wenn sie sich länger mit ihrer Mutter unterhielte, würde das Gespräch unweigerlich früher oder später auf Laura kommen. Dann würde Elena sich nicht zurückhalten können und ihre Mutter auf das Tagebuch ansprechen. Und obwohl sie neugierig war, hatte sie Angst davor.
Als ihre Mutter sie zum Abendessen rief, empfand Elena das geradezu als Erleichterung. Es bedeutete, dass dieser zähe, deprimierende Tag endlich zu Ende gehen würde. Auch, wenn das hieß, dass sie morgen wieder in die Schule musste. Und wenn sie einmal dort war, würde sich ein Gespräch mit Tristan kaum mehr vermeiden lassen können. Außerdem würde sie vor ihren Lehrern noch für das Schwänzen geradestehen müssen. Wenigstens dabei war sie nicht allein. Auf Vivienne war wenigstens Verlass.
Unkonzentriert schmierte Elena die Hausaufgaben in ihr Englischheft und beschloss danach, sich schlafen zu legen. Alles andere hatte sowieso keinen Sinn.
»Versprich mir, dass du dich von diesem Tristan fernhältst!« Ihre Mutter hatte es sich am Montagmorgen nicht nehmen lassen, Elena zur Schule zu fahren, auch wenn es eigentlich nur ein Fußweg von zehn Minuten war. Elena hatte das Gefühl, sie wolle sie überwachen.
»Ich verspreche es.« Die Lüge machte ihr nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen. Ihre Mutter hatte ihr Dinge über Laura verschwiegen, Ereignisse, die zu erfahren Elena ein Recht hatte. Schließlich war Laura ihre Schwester gewesen. Also konnte Elena auch ihrer Mutter Sachen verschweigen. Sie hatte keine Lust mehr, ständig Rücksicht nehmen zu müssen. Von nun an würde sie ihr eigenes Leben leben. Alle anderen konnten ihr gestohlen bleiben mit ihren guten Ratschlägen und ihren Meinungen.
Schweigend stieg sie aus dem Auto und lief über den noch fast leeren Hof auf das Schulhaus zu. Es erschien ihr noch grauer und noch hässlicher als früher. Abweisend.
Ich will hier weg, ging ihr durch den Kopf. Am liebsten sofort. Ich will diese Schule und dieses Dorf nie wiedersehen müssen.
In diesem Moment entdeckte sie Tristan, der alleine die Straße herunterkam. Ihr Herz schlug schneller, allerdings war sie sich nicht sicher, warum. Sie hatte solche Angst, mit ihm zu sprechen und etwas Schreckliches herauszufinden, aber andererseits freute sie sich, ihn zu sehen.
Sie wartete, bis er herangekommen war, schlang die Arme um seinen Hals und verbarg ihr
Weitere Kostenlose Bücher