Schmetterlingsscherben
verübeln.
Als wir endlich Schulschluss hatten, war ich erleichtert. Dennoch hatte ich Angst, Lennard würde mir irgendwo auf dem Pausenhof auflauern, aber er war nirgends zu sehen, sodass ich in Ruhe nach Hause flüchten und mich dort in meinem Bett vergraben konnte.
«Paps?», maulte ich, weil ich morgen nicht in die Schule konnte. Nicht, ohne in Tränen auszubrechen oder um mich zu schlagen. Und beide Varianten würden kein allzu gutes Licht auf mich werfen.
Mein Vater saß mir gegenüber am Esstisch und schmierte sich Butter auf sein Brot.
«Ich hab heut meine Tage bekommen und mir ist schon wieder ganz übel und unwohl…»
Er sah mich besorgt an. «Wir sollten das wirklich untersuchen lassen, Liebes.»
«Ich weiß», nickte ich, weil ich um diese kleinen Notlügen nicht herumkam. «Ich hab mir schon einen Termin geben lassen für nächste Woche. Wenn du willst, kannst du mit mir hingehen.» Rüdiger sah mich entgeistert an, weil er das als Allerletztes wollte.
«Ich glaube, das wäre den anderen Patientinnen da unangenehm», sagte er also ausweichend. Genau. Den anderen Patientinnen. «Aber wenn du nicht alleine hin willst, könnte ich Karin fragen, ob sie mit dir geht.»
«Schon okay, Paps. Ich frag einfach Dora, die wollte glaub ich sowieso noch kurz ein Rezept da abholen», wich diesmal ich aus, weil ich keine Lust auf Karin hatte und weil ich auch verdammt nochmal keinen Termin beim Arzt gemacht hatte. Jetzt bekam ich auch noch ein schlechtes Gewissen wegen der ganzen Lügerei.
«In Ordnung.» Er nickte sichtlich erleichtert und biss von seinem Käsebrot ab. «Wenn es morgen nicht besser geworden ist, bleib einfach zu Haus. Ich schreib dir eine Entschuldigung.»
Mir ging es gleich viel besser und erleichtert nickte ich und griff nach meiner Tasse.
«Lennard war gestern bei mir im Laden», erzählte er nun und ich verschluckte mich an meinem Tee. «Tatsächlich?», fragte ich und beäugte meinen Vater misstrauisch. Ich hatte irgendwie das Gefühl, er versuchte mich zu verkuppeln. Lennard war halt ein Schwiegermüttersöhnchen und Schleimer par excellence.
«Ja, er hat nach dir gefragt.» Er lachte. «Dabei bist du doch jetzt wieder hier und er könnte dich auch selber fragen. Aber war wohl irgendwie so bei ihm verinnerlicht. Er hat jeden Tag nach dir gefragt, nachdem du weg warst.»
Mir wurde übel und ich ließ das Marmeladenbrot sinken. Wieso? Ich verstand Lennard einfach nicht. Der war wie… wie zwei Persönlichkeiten auf einmal!
«Er ist wirklich ein guter Junge. Er hat sogar mal ein kleines Mädchen aus einem brennenden Haus gerettet, stell dir vor!», rief er und ich spürte, wie mich immer mehr Farbe verließ. Das Bild von Lennard am Hochsitz tauchte wieder vor mir auf. Was war er?! Mister Unverwundbar oder was?!
«Ich finde ihn nervig», sagte ich, um meinen Vater zu stoppen. Er sah mich groß an. «Wirklich? Nun ja, er ist vielleicht etwas anhänglich, aber das ist ja auch verständlich, bei dem, was er durchgemacht hat.» Er seufzte auf und ich griff mit zitternden Fingern nach meiner Tasse, um irgendetwas zu haben, an dem ich mich festhalten konnte. «Was hat er denn durchgemacht?», fragte ich, weil es auf keinen Fall schlimmer sein konnte als mein eigenes Leben.
«Sein Vater ist gestorben, als er sechzehn war und seitdem lebt er mit zwei seiner älteren Cousins in dem alten Haus, auch wenn ich nicht weiß, ob die beiden sich richtig um ihn kümmern können, weil sie selber noch so jung sind. Gruselige Gestalten.»
Mit offenem Mund saß ich da und merkte gar nicht, wie ich langsam den Tee verschüttete. Lennards Vater war tot?! Wieso hatte er da nie was von gesagt? Gut, vermutlich, weil wir nie wirklich zum Reden kamen. War er deswegen auf dem Friedhof gewesen?
«Klingt unschön», nickte ich und richtete die Tasse wieder auf. Unauffällig tupfte ich mit einer Serviette über die nasse Stelle in der Tischdecke.
«Unschön? Der Junge war noch ein halbes Kind und musste als Waise zurechtkommen… Aber wem erzähl ich das.» Mein Vater verzog mitleidig das Gesicht, als er sich wieder an die Sache mit Ma erinnerte. «Aber du hast ja immer noch mich.» Er lächelte flüchtig, was mich nur noch wütender machte. Ich sollte Mitleid mit Lennard haben?! Schön, dann hatte er seinen Vater verloren! Ich hatte drei Jahre in völliger Resignation und Selbsthass in Therapie und ein Jahr in einer Irrenanstalt verbracht und hatte meine Mutter verloren. Da hatte ich jawohl gewonnen,
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