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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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selbst begangen oder von ihren Bedienten hatte begehen lassen «. Eigentlich ist sie wie ein Autor, der das Peinliche thematisiert und dadurch Identifizierung ermöglicht.
    Den Courvoisier fehlt zudem die Fähigkeit, » in das Leben der Gesellschaft eine Erneuerung zu bringen «, über die Oriane mit ihrem Sinn für Modernität verfügt. Sie laden ihre Gäste gemäß » einer Art von geometrischer Beweisführung « ein, was zu den langweiligsten Ergebnissen führt. Wenn man für den Besuch einer bestimmten Prinzessin alle Nicht-Bonapartisten ausschließt, trifft die Prinzessin bei Madame de Courvoisier » nur irgendeine Witwe eines ehemaligen kaiserlichen Präfekten « oder andere » fatale Vogelscheuchen « an, während ihr bei Oriane ein mit Takt und Fingerspitzengefühl zusammengestelltes » anmutiges Bouquet « von Menschen geboten würde.
    Dabei wächst sich dieser Widerspruchssinn bei Oriane so weit aus, daß sie in der Konversation an einer » krankhaften Sucht nach willkürlichen Neuerungen « leidet, immer auf der Jagd nach einem neuen » schmackhaften Paradox «. Darin ähnele sie den Literaturkritikern, die sich ja auch darauf beschränkten, jeweils » das Gegenteil der von ihren Vorgängern erkannten Wahrheiten zu predigen « und Partien eines Werks » ins Dunkel hinabzustoßen, die so lange strahlend dagestanden hatten, und andere heraufzuholen, die ewiger Finsternis anheimgegeben schienen «.
    Sich durch paradoxe Urteile profilieren, die dem Überraschten ganz neue Horizonte zu eröffnen scheinen. Neulich hat sich jemand am Sonntagvormittag an der Idee begeistert, in ein Schwimmbad im Osten zu fahren, um zwischen den Kindern und Rentnern ins Wasser zu springen. Was für eine überraschende, paradoxe Idee für jemanden, der gerade mit seinem Porsche angerauscht gekommen und die Nacht auf einer Party in der Grunewalder Villa eines angesagten Journalisten verbracht hatte. Ich konnte dann gar keine Begeisterung heucheln über die spielerische Idee, mit Rentnern zu baden, mir hätte es vielleicht auch Spaß gemacht, wenn es nicht als Spiel gemeint gewesen wäre. Es tut mir immer leid, mit solchen Menschen nicht warm zu werden und sie damit in einen Abgrund von Selbsterkenntnis zu stürzen.
    Die Madame ist wie Neurastheniker, » die rasch ermüden und nach Wechsel verlangen «. Nur ihrem Mann kann das nichts anhaben: » Er allein hatte sie niemals geliebt; in ihm, der gleichgültig gegen alle ihre Launen, nichtachtend ihrer Schönheit gegenüber, von einem heftigen Willen beseelt war, den nichts zu beugen vermochte, war sie auf einen jener eisernen Charaktere gestoßen, unter deren Herrschaft nervöse Menschen eine Art von Beruhigung finden. « Das eröffnet natürlich ganz neue Horizonte bei der Partnerwahl. Anders als man denken sollte, braucht man für sein Glück jemanden, der einen nicht versteht, sich einem nicht unterordnet, sich in nichts von einem beeinflussen läßt und einen nicht liebt.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – Als ihr ein Bonmot berichtet wird, reißt die Prinzessin » in einer Bewunderung ›a priori‹ weit die Augen auf, in denen gleichzeitig die flehentliche Bitte um eine zusätzliche Erklärung lag «.
    Verlorene Praxis:
    – Gähnen oder Zeichen von Ungeduld geben, wenn man durch die Unüberlegtheit einer Gastgeberin einen Langweiler als Tischnachbarn erhalten hat.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Die Herzogin von Guermantes, deren Stimmung jeweils absank, wenn von der Schönheit einer anderen Frau die Rede war, ließ das Thema fallen. «
    82 . Di, 10.10., Berlin
    Nachdem mich vor zwei Jahren die Sophie-Calle-Ausstellung im Gropius-Bau so begeistert hatte, wollte ich mich moderner Kunst gegenüber wieder aufgeschlossener zeigen, aber es lag ja nicht an mir, sondern daran, daß sie nur noch für Leute produziert wird, die sich Wohnraum leisten können und Platz haben für heterogene Inneneinrichtungsgegenstände. Sophie Calle war da eine Offenbarung, dabei hatte ich von der laut Ankündigung bekanntesten französischen Künstlerin unserer Tage vorher noch nie gehört. Ihre Aktionen waren witzig, aber auch traurig, weil es immer darum ging, die Zeit festzuhalten und sich Spielregeln auszudenken, nach denen man seine Erfahrungen strukturieren kann. Wenn sie sich zum Beispiel einen Tag lang von einem Detektiv beschatten läßt und dessen Aufzeichnungen den eigenen gegenüberstellt, bekommt jede Zufälligkeit nachträglich einen Sinn. Oder wenn sie die

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