Schmidt Liest Proust
er nicht spricht), die Komik nicht aufeinander eingestellter Kommunikationssysteme. Die Verbeugungen und das Lächeln, die so linkisch wirken, weil sich der Höfliche auf das vermutete Niveau des unbekannten Eingeborenen herabläßt, die hier aber aus der Perspektive des »Eingeborenen« beschrieben werden.
Der Vorstellungsreigen geht weiter, Marcel schüttelt Hände, » und sehr zum Schaden meiner Fingergelenke, die leicht zerquetscht aus dieser Berührung hervorgingen, überließ ich meine Hand dem Schraubstock eines deutschen Händedrucks, der von einem ironischen oder gutmütigen Lächeln des Fürsten von Faffenheim begleitet war «. So nimmt sich also ein deutscher Fürst in einem französischen Salon aus, so ähnlich wie der Preuße in der Ferrero-Rocher-Werbung: »Aber mir könnse doch ne Kiste vakoofen!« Die Vorliebe dieses Milieus für Beinamen hat ihn übrigens so endgültig zum »Fürst Von« gemacht, » daß er selbst sich als ›Fürst Von‹ oder im intimen Kreise sogar nur als ›Von‹ unterschrieb «.
Auch in solch einem gehobenen Salon warten Ernüchterungen, wenn » der ordinäre Hampelmann, dem ich vorgestellt wurde «, so gar nicht zu seinem die Phantasie anregenden Namen passen will. Der Fürst von Agrigent hat » so wenig Beziehung zu seinem Namen wie zu einem Kunstwerk, das er besessen hätte, ohne den geringsten Widerschein davon auf seiner Person zu tragen, ja ohne es vielleicht auch jemals nur anzusehen «.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– Jemanden nicht einordnen können, der offenbar davon ausgeht, daß man ihn kennt: » Ich war ebenso ungeduldig, ihren Namen zu wissen, wie sie ihrerseits, zu sehen, daß ich sie verständnisvoll grüßte, damit sie ihr Lächeln, das sie wie einen hohen Ton in infinitum aushalten mußte, endlich ablegen dürfte. «
– Sich einer so demütigen Liebenswürdigkeit befleißigen, daß jeder auf der Stelle errät, » in welchem ungeheuren Hochmut diese mutmaßlich wurzelte «.
80 . So, 8.10., Berlin
Neulich hat jemand behauptet, in Japan gebe es eine neue psychische Erkrankung, deren Symptom es sei, daß der Betroffene sich nicht mehr aus dem Haus zu gehen traue aus Angst, draußen jemanden zu beleidigen. Das heißt doch, daß nur noch die unsensiblen Grobiane auf die Straße gehen. Wie bei uns. Ich gehe ja aus anderen Gründen nicht mehr aus dem Haus, weil ich Angst habe, von niemandem bemerkt zu werden. Vielleicht ließe sich diese Angst therapieren, aber ich gehe auch nicht zur Psychoanalyse, aus Angst vor der Inneneinrichtung des Therapeuten. In einer Freud-Ausstellung waren Fotos der Therapiesofas Dutzender Berliner Psychoanalytiker zu sehen. Die Konfrontation mit so einem scheußlichen Sofa muß so enttäuschend sein, daß man, alleine um das zu verarbeiten, Jahre Therapie brauchen dürfte. Jeder dieser Räume sah abstoßend aus, vom Arzt-Wartezimmer mit Fischgrat bis zur geheuchelten Privatatmosphäre mit Bücherwand und Lithographien. Natürlich wäre es unvernünftig, seinen Therapeuten nach seiner Inneneinrichtung auszuwählen. Auf die Art findet man vielleicht nie einen Therapeuten. Dann hat man irgendwann sein halbes Leben hinter sich und wartet immer noch auf den Märchentherapeuten. Die große Therapie ist aber ein Mythos. Eine Therapie kann sich auch auf Vernunft begründen. Man muß an seiner Therapie arbeiten. Wer nicht bereit ist, Kompromisse zu machen, wird womöglich untherapiert sterben.
Die Welt der Guermantes, S. 521–544
Endlich kann man zu Tisch. Das » imponierende Uhrwerk aus mechanischen und menschlichen Impulsen « wird auf einen Wink des Herzogs in Gang gesetzt. Die Türen zum Speisesaal öffnen sich, die Madame führt Marcel an seinen Platz. Die komplizierte Etikette, die Frage, wer das Recht genießt, von wem die Hand gereicht zu bekommen. Das muß alles geklärt sein, bevor man sich begegnet. Zur Zeit Ludwig XIV. ist es vorgekommen, daß ein Kurfürst einen Herzog zwar zum Essen empfing, sich aber krank stellte, so daß er im Bett essen konnte, womit er zwar mit ihm gegessen hatte, ihm aber nicht die Hand geben mußte. Man ist einerseits » ein Sklave der kleinsten formellen Verpflichtungen «, hält sich aber andererseits nicht lange mit Trauern auf, wenn der eigene Bruder stirbt. Das ist » jene dem Hofleben unter Ludwig XIV. eigentümliche Verbildung […], durch welche Gewissensskrupel aus dem Bereich der Gefühle und der Moral in die Sphäre des Protokolls verlagert worden sind «. Ein erlösender Triumph
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