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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Mädchenart verdrehend, auf dem Parkett kauerte, um eines der schwülstig-nebulösen Gedichte der Künstlerin in sein zu großes Notizbuch mit ockerfarbenen Seiten zu übertragen.
    Kurzzeitig hatte man draußen wieder diesen »Objekt«-Blick, zum Beispiel an einem U-Bahn-Kiosk, aus dem ein dicker Lüftungsschlauch hing. Ein Künstler hätte es für Kunst halten können.
    Die Welt der Guermantes, S. 567–588
    Mehr zur unberechenbaren Oriane, die durch ihre » einander widersprechenden Edikte […] unaufhörlich die Ordnung der Werte bei den Personen ihres Kreises umstürzte «. Man staunt, wenn man sie im Theater statt in einer Loge » auf einem der Parkettfauteuils entdeckte «, und sofort wird einem bewußt, daß das ja die einzige wahre Form ist, so ein Stück zu sehen. Oder wenn sie sich ausgerechnet in der Besuchssaison an Bord einer Jacht begibt, um zu den norwegischen Fjorden aufzubrechen. Das führt dazu, daß die Prinzessin von Parma, die Oriane so gerne nachahmen würde, um auch deren gesellschaftlichen Erfolg zu haben, » sich auch an das geringfügigste Thema nur mit der gleichzeitig beunruhigten und lustvollen Vorsicht einer Badenden heranwagte, die zwischen zwei schweren Sturzwellen im Wasser auftaucht «.
    In Orianes Salon trifft man auch manchmal eine der abgelegten Mätressen des Herzogs, er schätzt » große, gleichzeitig majestätische und doch zwanglos sich gebende Frauen eines bestimmten Stils, der zwischen der Venus von Milo und der Nike von Samothrake zu suchen war «. Sie findet in diesen Frauen, die sich früher oder später bei ihr ausweinen kommen, Verbündete, wenn es darum geht, dem Herzog Geld abzunehmen. Außenstehende halten die beiden allerdings für ein Vorzeigepaar, weil der Herzog immer die Formen wahrt: » Abgesehen von seltenen Augenblicken zu Hause, da der Herzog, wenn die Herzogin zuviel sprach, Worte und vor allem Arten des Schweigens fand, die niederschmetternd wirkten. «
    Verlorene Praxis:
    – Mit der Geliebten von seinem Landsitz aus über Brieftauben korrespondieren.
    – Während man seiner Frau den Mantel umlegt, ihre Kolliers arrangieren, damit sie nicht im Futter hängenbleiben.
    – Unter der Einwirkung einer außergewöhnlichen Erregung tatsächlich manchmal sagen, was man denkt.
    83 . Mi, 11.10., Berlin
    Zum ersten Mal dienstlich im DT gewesen, und es war natürlich ernüchternd, obwohl sich ein Kreis schloß. In den Achtzigern, als ich ständig ins Theater ging, wäre Kritiker mein Traumberuf gewesen, weil ich damals das Privileg, umsonst an Karten zu kommen, stark überschätzte. Hauptdarsteller, Regisseur, Autor und Kritiker, so viele dieser Funktionen wie möglich wollte ich auf mich vereint sehen. Dabei konnte ich nicht mal Sächsisch nachmachen, hatte noch nie erreicht, daß jemand meine Anweisungen befolgte, war zu träge zum Schreiben und sah, wenn ich ehrlich war, am liebsten fern. In der Schule mußten wir einen Aufsatz zu einem freien Thema schreiben, und ich hatte die Aufgabe wieder bis zum letzten Moment vor mir hergeschoben. Es war mir schon damals nicht möglich, irgend etwas zu tun, bevor es dafür zu spät war, das muß am System gelegen haben. Am Abend vor der Abgabe sah ich im DT »Die Fliegen«, und mir blieb nichts anderes übrig, als meinen Aufsatz über das Stück zu schreiben. Ich brauchte die halbe Nacht, es war eine elende Quälerei, mir fiel plötzlich auf, wie schwer Deutsch war und ich verfiel ständig in diesen Theaterkritikerton. Ich hatte das Stück zwar schon mehrmals gesehen und sogar einmal gelesen, aber immer noch keine Ahnung, worum es eigentlich ging. Wir waren einfach begeistert vom morbiden Bühnenbild mit der riesigen an der Wand klebenden Fliege. Und die Erinnyen zischten so fies. Es wurde viel geschrien, und wie immer im Theater wurde es gegen Ende etwas zäh, so daß man froh war, wenn der Vorhang endlich fiel, vielleicht schaffte man ja eine Bahn früher und konnte noch ein bißchen fernsehen.
    Diesmal litt ich auch wieder bei dieser demütigenden Applauszeremonie, wenn die Schauspieler einzeln vortreten müssen, um sich ihre Bewertung abzuholen und sich bei dem einen Jubelrufe ins Klatschen mischen, während es bei dem anderen merklich stiller wird. Es war zwar eine Premiere, aber alle sahen sehr bedrückt aus. Es gab wie so oft eine Gruppe Schauspielstudenten in Nebenrollen, denen man auf der Schauspielschule schon diese hysterische Art antrainiert hatte, mit höchster körperlicher Spannung dem ganz normalen

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