Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
aufzufrischen, schrieb er ihr plötzlich einen Brief voll erfundener Vorwürfe und geheucheltem Groll, den er ihr vor dem Abendessen in ihr Haus bringen ließ. « Die besonders zärtlichen Antwortbriefe, die er von ihr erhält, bewahrt er in einer Schublade auf, zusammen mit einer vertrockneten Chrysantheme, die sie ihm einmal geschenkt hatte.
    Trotzdem nimmt er sich immer mehr Zeit mit » der kleinen Arbeiterin «, da es ihm genügt, Odette vom Salon aus nach Hause zu begleiten. So erwünscht diese gemeinsame Heimkehr auch ist, ihre Unvermeidlichkeit weckt einen gewissen Überdruß. Einmal behält er die kleine Arbeiterin so lange im Wagen, daß Odette schon weg ist. Er sucht sie in Restaurants, ohne es eigentlich für möglich zu halten, sie zu finden. Er wird rasend, obwohl er sie doch ohnehin morgen wieder sehen wird und er sich ja auch absichtlich verspätet hatte, gerade weil er sie sonst hätte nach Hause begleiten müssen. Swann » zitterte, sich um ein Vergnügen gebracht zu haben, dessen Umfang er zum ersten Male richtig ermaß, da er bislang immer die Gewißheit gehabt hatte, sie, wann er wollte, sehen zu können – ein Zustand, der bei allen Vergnügungen verhindert, daß wir sie in ihrer wahren Bedeutung erkennen «. Man muß die Kunst beherrschen, seinen Partner solche Zustände auskosten zu lassen.
    Schließlich trifft er Odette tatsächlich und sie steigt in seinen Wagen. Aber hier sind die heutigen zwanzig Seiten vorbei.
    14. Mo, 31.7., Odessa, Uspenskaja 13
    8.30 Uhr aufstehen und Zwei-Stunden-Lauf. Zur »Health Road« am Meer, von dort eine halbe Stunde an der Küste bis zum Vergnügungsviertel Arkadia. An einer Stelle liegen acht apathische Hunde auf dem Weg, man kann einfach vorbeilaufen. Nur wenn ein anderer Hund auftaucht, jagen sie manchmal bellend los. Hier und da ein stinkendes Klo am Wegrand. Eine verrostete Seilbahn. Die Sowjetunion war anscheinend nur ein gigantischer Langzeittest für Baumaterialien. Rückweg bis zum Park, der Blick auf die Schiffe im Hafen. An einer Straßenecke eine Melone. Die Verkäuferin schneidet einen Keil heraus, damit ich sie prüfen kann. Nachts liegen die Melonen allein auf der Straße in großen eisernen Käfigen.
    Zwei Sender, die nur altes sowjetisches Fernsehen wiederholen. Bilder von der Olympiade in Moskau, die Abschiedszeremonie. Die Zuschauer halten bunte Tücher hoch und malen damit große Bilder. Sogar Mischkas Abschiedstränen konnten sie kullern lassen. Später eine russische Soap. Eine Frau stellt dem Mann morgens Joghurt hin, er will aber Fleisch. Sie ist tief besorgt: »Golodnij muschtschina, zlo muschtschina.«
    Da ich noch relativ jung bin, besteht durchaus die Chance, eines Tages der letzte noch lebende Proust-Leser zu sein. Von Jahr zu Jahr sind es weniger geworden, die bei den Feierlichkeiten zu Prousts Todestag auf der Tribüne begrüßt wurden, mit uns stirbt eine Epoche. Unsere Kinder werden in einer Welt ohne Proust aufwachsen können.
    Wenn die Welt es wirklich ernst meinen würde mit ihrer Verehrung für die großen Künstler, würde sie nicht ihren Tod abwarten, sondern vorher untergehen.
    In Swanns Welt, S. 274–294
    Ein Buch, das so lang ist, muß natürlich auch erst nach dreihundert Seiten in Schwung kommen, das entspricht dreißig Seiten bei einem normalen Buch. Vielleicht hat es Proust auch so gehalten, wie er es von den Frauen behauptet, je schwerer sie zu erobern sind, umso dauerhafter der Genuß. Insofern hat er vielleicht bewußt ein Gebirge von Blumenmalereien vor dem Leser aufgetürmt, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Es wird schwerer, die Handlung zusammenzufassen, da kaum noch überflüssige Sätze fallen. Swann liebt Odette, obwohl er genau weiß, daß sie nicht besonders intelligent und mit einem sehr durchschnittlichen Geschmack begabt ist. Es liegt wohl mehr an Swann als an Odette, daß er sie unwiderstehlich findet. Wie erschleicht man sich die Gelegenheit, eine Frau zu küssen? Indem man sagt: » Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich die Blumen in Ihrem Ausschnitt zurechtrücke. « Das geht freilich nur, wenn vorher » das Pferd gescheut « hat. Auch etwas aus der Mode gekommen: das Gesicht der Frau » mit aller Macht […] von dem seinen fernzuhalten, als werde sie durch eine unsichtbare Kraft zu ihm gezogen «. Als sie sich nun schon » gleichsam gegen ihren Willen auf seine Lippen sinken ließ «, hält Swann ihr Gesicht noch einen Augenblick » mit beiden Händen von sich ab «. Vielleicht, wie man

Weitere Kostenlose Bücher