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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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den Frauen lassen.
    In Swanns Welt, S. 211–233
    Marcel erlebt nun also auf dem Kutschbock die erlösende Macht der Literatur, weil seine Zeilen über die ihn aus unbekanntem Grund faszinierenden Kirchtürme, » mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg zu befreien vermocht hatten, daß ich, als sei ich selber ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann «. Vielleicht kommt später noch zur Sprache, was für ein gefährliches Spiel sich hier andeutet. Denn wenn man sich, indem man über die Dinge schreibt, von ihnen befreit, bleibt am Ende ja nichts mehr, was einen fesselt. Man müßte sich also hüten, über eine Geliebte zu schreiben, auch wenn einen nichts stärker reizt.
    Wie funktioniert Marcels Gefühlshaushalt? Er ist abhängig von der Erinnerung, insbesondere an seine Kindheit. » Weil ich an Dinge und Wesen noch geglaubt, während ich jene Gegenden durchschritt, sind die Dinge und Wesen, die ich in ihnen kennenlernte, die einzigen, die ich heute noch ernst nehmen kann und die mir Freude schenken. « Und so ist man eben dazu verurteilt, sich immer wieder mit der DDR zu befassen, wenn man hundert Jahre nach Proust und nicht in Frankreich geboren ist. » Ob nun der schöpferische Glaube in mir versiegt ist oder die Wirklichkeit sich nur aus der Erinnerung formt, jedenfalls kommen mir Blumen, die man mir heute zeigt, nicht mehr wie richtige Blumen vor. « Dabei gab es im Osten ja nur ganz selten Schnittblumen. (Eine womöglich sogar bessere Kopie des Verlorenen würde einen übrigens nicht trösten, es ließe Marcel völlig kalt, wenn » man mich an das Ufer eines Flusses führte, wo es ebenso schöne, ja schönere Seerosen gibt als auf der Vivonne «.)
    Durch das Anknüpfen einer Verbindung zu seinem Herzen bekommen die Dinge » eine weitere Dimension «. Es ist ein eigenartiger Effekt, daß viele Häuser in Westberlin wie in Pankow aussehen, trotzdem muß man erst mühsam mit seinem Herzen eine Verbindung anknüpfen. Manchmal reicht es, daß eine Straße nach einer Stadt heißt, in der man schon einmal war, oder ein Restaurant wie eine frühere Freundin. Das genügt für » eine weitere Dimension «. Wobei dieser Zauber » nur für mich spürbar ist «, sagt Marcel, was es schwer macht, ihn mit anderen Menschen zu teilen.
    Swann hat eine Schwäche für Frauen mit » gesunden, rosigen Körperteilen «, die gar nicht dem Ideal von Tiefe und Schwermut des Ausdrucks entsprechen, das er an den Werken der Meister schätzt. Er läßt sich gern bei minderwertigen Gesellschaften einladen, wenn ihm die dortige Köchin aufgefallen ist. Frühere Geliebte » kommen zu lassen «, wäre ihm wie eine » feige Flucht vor dem Leben « erschienen. » Er baute nicht Hütten in dem, was er sich an Beziehungen geschaffen hatte, sondern schlug statt dessen lieber überall da, wo eine Frau ihm gefiel, eines jener leicht abzumontierenden Zelte auf, wie die Forschungsreisenden sie mitzuführen pflegen. «
    Wie angenehm, so ein » müßiges Dasein «, mit Pokerabenden und wöchentlichen Tischeinladungen, in Gesellschaften, in denen man » ein Gedeck hat «. Bevor Swann dorthin aufbricht, » wählte er eine Blume für sein Knopfloch aus «. Während wir ein T-Shirt suchen, dessen Kragen nicht so ausgeleiert ist.
    Manchmal nimmt Swann eine Geliebte in eine der mondänen Gesellschaften mit, die ihn eigentlich langweilen. Aber weil sie ihm für die Bekanntschaft mit diesen Leuten Bewunderung zollt, » fand er von neuem einen Reiz an diesem mondänen Leben, dem er sonst bereits so blasiert gegenüberstand «.
    Man könnte das auch anders formulieren: weil er eine Geliebte zu Besuch hatte, fand er von neuem einen Reiz an Berlin, dem er sonst bereits so blasiert gegenüberstand, nun aber erschien ihm die von einer darin spielenden künstlichen Flamme warm und rosig durchschimmerte Substanz jener Stadt wieder schön und kostbar zugleich, da eine neue Liebe mit in sie einbezogen war.
    Swann wird sich nun also in Odette verlieben, die » mit einem Genre von Schönheit begabt war, das ihn nicht eigentlich ansprach «. Hütet euch vor den Frauen, die euch nicht eigentlich ansprechen! Vor allem, wenn ihr in einem » illusionslosen « Alter seid, wie Swann, in dem » man sich damit zu bescheiden weiß, selber verliebt zu sein und nicht auf allzuviel Gegenseitigkeit zu rechnen […]. In dieser Epoche des Lebens ist man von der Liebe schon mehrmals angerührt worden; sie rollt

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