Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
nicht mehr aus sich selbst nach ihren eigenen unbekannten und schicksalsbedingten Gesetzen in unserem staunenden und passiv davon betroffenen Herzen ab. Wir helfen nach, wir nehmen durch Hinzuziehen der Erinnerung und durch Suggestion Fälschungen daran vor. Wenn wir eines ihrer Symptome wiedererkennen, erinnern wir uns an andere und erwecken sie selbst zum Leben in uns. Da ihr ganzes Lied in unserem Herzen eingegraben ist, haben wir gar nicht nötig, daß eine Frau uns mehr als die erste Strophe davon rezitiert, damit wir – von der Bewunderung erfüllt, die wir der Schönheit zollen – selbst die Fortsetzung finden «.
    Unklares Inventar:
    – Jett-Tropfen.
    12. Sa, 29.7., Odessa, Uspenskaja 13
    Wenn Marcel nachts aufwacht, rekonstruiert er im Geist das Zimmer, in dem er sich befindet, und fühlt sich dabei wie ein Raumausstatter beim Möbelrücken. Beim Lesen befindet man sich auch immer schon in einer Art Zimmer. Man kann die Bedeutung Prousts nicht ignorieren (die ja ein Grund ist, warum man ihn liest), man spekuliert auf das Prestige, so ein Buch geschafft zu haben. Man weiß, daß der Autor als Ästhet gilt und sich besonders nuanciert ausdrückt. Als ich heute zu lesen begonnen habe, hatte ich aber, sicher weil ich in der Ukraine bin, kurzzeitig die Vorstellung, einen russischen Roman zu lesen. Ich hatte mich sozusagen im Zimmer geirrt. Aber es funktioniert, man denkt sich dann sofort andere Möbel zum Buch, sieht die Figuren als »typische Russen« vor sich (wie man sie natürlich auch nur aus typisch russischen Romanen kennt) und bemüht sich zu verstehen, was das alles mit Rußland zu tun hat, bis man »aufwacht«.
    In Swanns Welt, S. 233–254
    Odette punktet bei Swann mit Aussagen, wie: » Sie haben sicher einmal um eine Frau gelitten, und nun meinen Sie, alle sind so wie sie. Sie hat Sie gewiß nicht verstanden; Sie sind ein so ganz besonderer Mensch. Gerade das habe ich von Anfang an in Ihnen geliebt, ich habe gefühlt, daß Sie nicht sind wie die anderen alle. « So verführt man, Mitgefühl, Trost und Schmeichlei. Möglicherweise hat sie recht, und es sind wirklich nicht alle wie diese bewußte Frau, aber ob er an den anderen überhaupt interessiert ist? Wir hängen doch immer dem Irrtum an, Frauen die uns abweisen, hätten uns durchschaut, und Frauen, die uns wollen, hätten uns mißverstanden.
    Swann läßt sich von Odette in den Salon der Verdurins einführen, den Proust ziemlich gnadenlos beschreibt. Ein Doktor, der immer lächelt, um nicht als naiv zu gelten, falls er die Ironie einer Aussage nicht mitbekommen haben sollte, ein Mann, den sein gutes Herz die Achtung gekostet hat, die ihm sein Vermögen eingebracht hatte und dessen Sprachfehler » einen seelischen Vorzug verriet «, denn » alle Konsonanten, die er nicht aussprechen konnte, standen für ebenso viele Härten, zu denen er nicht imstande war «. Und schließlich die Tante des Pianisten: » Da sie keinerlei Bildung besaß und Angst vor Schnitzern hatte, sprach sie absichtlich möglichst undeutlich, in der Hoffnung, daß, wenn sie etwas Falsches sagte, ihre Rede in einem solchen Gemurmel untergehen würde, daß es nicht mehr mit Sicherheit festzustellen sei; dadurch war ihre Sprechweise allmählich zu einem bloßen unklaren Nuscheln geworden, aus dem sich von Zeit zu Zeit eine einzelne Vokabel heraushob, deren sie vollkommen sicher war. « Auch eine Methode beim Fremdsprachenerwerb, Genuschel und ein paar Vokabeln, die man beherrscht.
    Die Gastgeberin, Madame Verdurin, hat sich einmal beim Lachen den Kiefer ausgerenkt, seitdem » verzichtete sie auf sehr nachdrückliche Heiterkeitsausbrüche und überließ sich statt dessen lieber einer konventionellen Mimik, die, unanstrengend und gefahrlos zugleich, auszudrücken schien, daß sie Tränen lache. Bei dem geringsten Scherzwort, das ein Getreuer gegen einen ›Langweiler‹ oder einen früheren Getreuen vorbrachte, stieß sie – zur größten Verzweiflung übrigens von Monsieur Verdurin, der lange Zeit den Ehrgeiz gehabt hatte, für ebenso liebenswürdig zu gelten wie seine Frau, der aber, da er ernstlich lachte schnell außer Atem geriet und so durch ihre List einer unaufhörlichen, wenn auch fiktiven Heiterkeit ins Hintertreffen geraten war – einen kleinen Schrei aus, drückte ihre Vogelaugen, die eine leichte Hornhautveränderung zu verschleiern begann, fest zu und barg plötzlich, als habe sie nicht mehr Zeit gefunden, ein unpassendes Schauspiel den Blicken zu entziehen oder

Weitere Kostenlose Bücher