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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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einem tödlichen Anfall zu begegnen, das Gesicht in den Händen, so daß es völlig bedeckt und nichts mehr davon zu sehen war; es schien dann, als müsse sie die größten Anstrengungen machen, um einen Lachanfall zu unterdrücken, der, wenn sie sich ihm hemmungslos überlassen hätte, zu einer Ohnmacht geführt haben würde «. Falsches Lachen, um länger durchzuhalten? Und ihr armer Mann gilt als weniger liebenswürdig, weil es ihn anstrengen würde, wegen einer Kleinigkeit zu lachen? Warum gilt es überhaupt als liebenswürdig, über die Bemerkungen seiner Gäste zu lachen?
    Ausgerechnet in dieser Gesellschaft hört Swann ein Klavierstück, das ihn einmal tief bewegt hatte, von dem er aber damals den Komponisten nicht ermitteln konnte. » Da er sich im Geiste nicht mehr mit großen Gedanken beschäftigte, hatte er aufgehört, an ihre Realität zu glauben. « Auf diese » seelische Verödung « wirkt die Musik heilsam, wie ein Ortswechsel auf einen chronisch Kranken. Das Essen hier in Odessa kann man sicher als » von der gewohnten abweichende Diät « bezeichnen. Aber ich hoffe, es bewirkt keine » unerklärliche organische Umstellung «. Und ein neues Leben beginnen? Es wäre ja schon ein Fortschritt, wenn man einmal aufhören würde, sich ständig einzubilden, das tun zu müssen.
    Unklares Inventar:
    – Tapisseriesofa von Beauvais.
    Verlorene Praxis:
    – » Die elementare Gymnastik des Weltmanns « beherrschen und Leuten gegenüber, deren Kreise den eigenen untergeordnet sind, höflich und zuvorkommend zu scheinen.
    – Schon beim ersten Besuch den Ton des Hauses treffen.
    13. So, 30.7., Odessa, Uspenskaja 13
    Ich fühle mich hier ein bißchen wie in der Kindheit, draußen scheint die Sonne, und man guckt im Ferienprogramm sowjetische Filme, in denen Jugendliche ihre Konflikte untereinander selbständig lösen, auch wenn ihnen ein Lehrer oder ein Polizeikommissar in besonders heiklen Situationen zur Seite stehen. Eigenartig auch der Charme mancher dieser Filme aus der Produktion, vielleicht weil in der Melancholie der jungen Hauptdarstellerin ihr richtiges Leben durchscheint. Eine Frau, die in einem Kombinat am Baikalsee arbeitet. Sie hat mehrere ernstzunehmende Bewerber, vom heimgekehrten Jugendfreund bis zum bärbeißigen Brigadier, aber keiner kann ihr ein Lächeln ins Gesicht zaubern, denn sie muß immer an die Worte ihres verstorbenen Vaters denken: »Man soll nicht sein ganzes Leben am See verbringen.« Deshalb trennt sie sich schließlich von der Heimat und den vielversprechenden Männern und geht an die Lena, um beim Bau eines Wasserkraftwerks mitzuwirken. Man braucht ein Ziel im Leben, mit dem man der Gesellschaft nützt, und das ist schon das Glück, hatte der Brigadier gesagt.
    Heute morgen kam dann ein Video von Groove Armada, »My Friend«, in dem eine Frau im Büro Unterlagen kopiert und beim Anblick der Bläschen im Wasserbecher an ihren Strandurlaub zurückdenkt, wo sie so ausgelassen mit den Freundinnen gefeiert hatte. Das war eine Proustsche Absence, nur daß es bei Proust Bläschen am Stengel einer Wasserrose gewesen wären. Jeder Hersteller versucht heute, mit dem Produktdesign beim Kunden solche Bewußtseinsströme wachzurufen, damit er mit etwas, was er noch nicht besitzt, Gefühle verbindet. Die Kaufhalle ist voller synthetischer Madeleines.
    In Swanns Welt, S. 254–274
    Unterwegs zum Salon, wo er täglich Odette trifft, liest Swann mit der Kutsche eine » kleine Arbeiterin « auf, in die er verliebt ist, weil sie » so frisch und blühend « ist und weil » sein Liebesverlangen immer gerade in einem seinen ästhetischen Neigungen ganz entgegengesetzten Sinn orientiert war «. Sie steigt aus, er geht hinauf in den Salon, wo Odette schon wartet, und der Pianist stimmt das Motiv an, » das gleichsam die Nationalhymne ihrer Liebe war «.
    Aber so richtig begeistert er sich für Odette erst, als ihm auffällt, daß sie » auf frappante Weise der Gestalt Sephoras, der Tochter Jethros, auf einer der Fresken in der Sixtinischen Kapelle glich «. Und weil Botticelli dieses Wesen angebetet und gemalt hat, fühlt er sich auf vertrautem Terrain, denn er kann » sich in ihrer Beurteilung auf die Gegebenheiten einer gesicherten Ästhetik stützen «.
    Das Problem an Odette ist, daß sie es ihm gar nicht schwer macht, er sieht sie ja jeden Tag bei den Verdurins. » Um seine allzu einseitig gewordene seelische Sicht von Odette, von der er fürchtete, sie möchte ihn schließlich ermüden, etwas

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