Schmidt Liest Proust
ohne dich geblieben wäre. «
Solange man liebt, kann man sich kein richtiges Bild von der Geliebten machen: » Immer wieder gleicht ein junges Mädchen so wenig dem, was sie das letzte Mal war […]. Ein unverrückbares Bild von ihr wird aus unserer Gleichgültigkeit geboren, die sie der Beurteilung durch den Verstand anheimgibt. « Im Gedächtnis sind die verschiedensten Bilder aufbewahrt, die dem Wesen, das man kennt, ziemlich unähnlich sind, und » man begreift dann, welche Modellierarbeit täglich die Gewohnheit vollzieht «. Die verschiedenen Albertines aus Balbec I und Balbec II. Wenn ich denke, daß ich sechsmal nach Bulgarien gefahren bin und meine Freundin bei jedem Aufenthalt jemand anderes war, dann müßte ich, wenn ich das wie Proust protokollieren wollte, mit ein paar Jahren Arbeit rechnen.
Man weiß nie, ob ein Satz wie der folgende noch eine Schlüsselfunktion haben wird, im Moment scheint er mir das Buch nur unnötig aufzublähen: » An den Abenden, an denen Albertine mir nicht vorlas, musizierte sie oder fing mit mir eine Partie Dame oder ein Gespräch an, die ich alle beide unterbrach, um sie zu herzen und zu küssen. «
Ein schöner Titel für ein Buch wäre: » Das schläfrige Anschlagen der Brandung an den Strand in Vollmondnächten «.
Eine Möglichkeit, das Bedürfnis nach ihr und nach der » Macht zu träumen, die ich nur in ihrer Abwesenheit besaß «, zu versöhnen, ist, sie im Schlaf zu beobachten. Dann ruht ihr Blick nicht länger auf ihm, und » ich hatte nicht mehr nötig, an meiner eigenen Oberfläche zu leben «. Dann schmiegt er sich manchmal an sie und ihr Atem hebt ihn leicht empor, » ich hatte mich auf dem Schlummer Albertines eingeschifft «. Aber nicht nur das, manchmal läßt er sein » Bein an dem ihren entlanggleiten wie ein Ruder, das man schleppen läßt und dem man von Zeit zu Zeit eine leise Schwingung mitteilt «.
Und endlich geschieht es zum ersten Mal in diesem Buch, daß offiziell der Name »Marcel« fällt, allerdings eigenartig verklausuliert: » [S]ie sagte ›Mein‹ oder ›mein lieber‹, jeweils gefolgt von meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler denselben Vornamen verliehe, den der Verfasser dieses Buches trägt, ergeben hätte: ›Mein Marcel‹. «
Unklares Inventar:
– Ein Mantel aus Zibeline, ein Morgenrock von Doucet, die siamesischen Schwestern Rosita und Doodica.
Verlorene Praxis:
– Sich aus einer Schar blühender junger Mädchen mit nicht geringer Genugtuung die schönste Rose pflücken.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Vielleicht müssen menschliche Wesen imstande sein, uns viele Leiden zu bereiten, damit sie uns in den Stunden, da diese nachlassen, einmal die gleiche befriedigende Ruhe schenken wie die Natur. «
125 . Mo, 27.11., Berlin
In diesem Jahr verzichte ich auf alle Maßnahmen zur Stärkung meines Immunsystems, die im letzten Jahr so kläglich versagt haben: täglich Echinacea, frischgepreßter Saft von zwei Orangen am Morgen (mit einer Messerspitze Vitamin-C-Pulver), dreimal die Woche Joggen, viel Obst und Gemüse, Wechselduschen, einmal die Woche Sauna, Schlafen mit den Füßen zur Wand, weil dort immer ein leichter Luftzug von oben zu kommen und meinen Kopf zu verkühlen schien. Obwohl ich das alles in diesem Jahr vernachlässige, bin ich so wenig krank wie lange nicht. Gestern war ich aber, um mich von meinem Kummer abzulenken, nach einem halben Jahr wieder einmal in der Sauna und habe dort Proust gelesen, was im Bademantel eine bessere Sauna-Lektüre ist als Houellebecqs »Plattform«, bei dem man ständig in der Auto-Bild blättern muß, um sich von den »Stellen« abzulenken. Das künstliche Vogelgezwitscher im Saunaraum, die nun schon im dritten Jahr laufende »Oh, Champs-Elysées …«-CD im Ruhebereich, die alten BUNTE-Ausgaben im Zeitungsständer, die schlechten Witze beim Aufguß, die Salzstangen, all das hatte mir doch gefehlt. Bei den kalten Wassergüssen aus dem unter der Decke hängenden Eimer fiel mir ein, daß Wasser ja früher eine beliebte Behandlungsmethode bei psychischen Erkrankungen war, und ich hätte gerne mit Eis und Elektroschocks alle Emotionen aus mir herausgefräst. Zumindest hat mich die Sache müde gemacht, schlafen zu können ist ja ein Segen, aber den folgenden Vormittag mußte ich dann doch wieder mit E-Mail-Schreiben verbringen, weil ich mich wegen einer Frau nicht auf mein an sich beneidenswertes Dasein konzentrieren konnte. Dabei ist mir aufgefallen, daß ich manchen
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