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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Bekannten nur schreibe, wenn ich in ein aussichtsloses Geschlechterschlamassel geraten bin, also inzwischen ungefähr alle ein bis zwei Jahre. Monate später werde ich diesen Mails, wie auch diesem Eintrag hier, mit Unverständnis begegnen. Es ist alles Biochemie, und es hört, wie mir meine Mutter versichert hat, mit vierzig langsam auf (andere Koryphäen aus meinem Sozialleben behaupten allerdings das Gegenteil). Aber wozu schleppt man sich immer weiter durch dieses Leben? Zu Markus Wolfs Begräbnis sind eintausendfünfhundert Menschen gekommen, wieviele würden es bei mir sein? Und werden es mehr, wenn ich noch etwas durchhalte, oder kann man den Moment zum Absprung auch verpassen? Vielleicht sollte man, wie beim Blog, Subscriber für sein Begräbnis sammeln, damit man weiß, wann der beste Zeitpunkt gekommen ist?
    Die Gefangene, S. 88–109
    Ein Beispiel, welcher Gehirnwäsche ich mich hier unterziehe, kein Wunder, wenn man dann immer das Falsche macht: » [D]adurch weist das Leben der Liebe die größten Kontraste auf, es ist dasjenige, bei dem ein unvorhersehbarer Pech- und Schwefelregen nach den strahlendsten Augenblicken niedergeht und bei dem wir, ohne Mut und Kraft, aus dem Unglück eine Lehre zu ziehen, unmittelbar an den Wänden des Kraters, aus dem die Katastrophe kommen kann, von neuem zu bauen beginnen. «
    Es ist jetzt immer öfter von der Arbeit die Rede, an die er sich nicht begibt. Sogar der Begriff »Prokrastinieren« fällt. Aber kein Tag scheint der richtige zu sein. Nicht einmal der Morgen, an dem er sich »zu einem Duell begibt «, der zwar die plötzliche Einsicht in den Wert des Lebens schenkt und den Vorsatz, in Zukunft jede Minute zu nutzen, aber, unverletzt vom Duell heimgekehrt, begegnen dem Duellanten die gleichen Hindernisse wie vorher. Außerdem wird man sich gerade am Abend nach einem glücklich überstandenen Duell am ehesten mit gutem Gewissen eine Pause zugestehen.
    Statt zu arbeiten, liegt er im Bett: » An diesem strahlenden Sonnentag von morgens bis abends mit geschlossenen Augen liegenzubleiben war eine ebenso erlaubte, gebräuchliche, heilsame, angenehme, der Jahreszeit entsprechende Sache, wie die Fensterläden gegen die Hitze geschlossen zu halten. « In dieser Zeit schifft er » träge von Tag zu Tag « und läßt sich von Gedächtnisbildern überraschen.
    Eine Liste von Wünschen, die er noch hegt:
    – ein wohlerzogenes Mädchen
    – ein Mädchen, das Stundenhotels besucht
    – schöne Kammerjungfern, insbesondere die der Baronin von Putbus
    – Frühlingsanfang auf dem Land
    – Weißdorn, blühende Apfelbäume, Stürme
    – Venedig
    – sich an die Arbeit zu setzen
    – ein Leben wie alle anderen zu führen
    Aber die nagende Eifersucht: » Daher hat man auch in der Liebe nicht wie im gewöhnlichen Leben nur die Zukunft zu fürchten, sondern sogar die Vergangenheit, die oft erst nach der Zukunft Gestalt annimmt, und wir denken dabei nicht nur an eine Vergangenheit, von der wir erst nachträglich etwas erfahren, sondern an diejenige, die wir schon lange in uns getragen haben, in der wir aber mit einem Male erst zu lesen lernen. « Ja, die gemeinsame Vergangenheit plötzlich entziffern zu können, ist eine quälende Angelegenheit. Erst recht, wenn man die Tendenz hat, alles immer gegen sich auszulegen. Dann braucht man nicht einmal zu beobachten, daß sie jemand anderem Blicke zuwirft, es reicht schon, zu beobachten, daß sie es nicht tut. Denn daraus schließt man, wie angestrengt sie zu verbergen versucht, was in ihr vorgeht.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » O große Gebärden des Mannes und der Frau … «
    126 . Mo, 27.11., Berlin
    Noch 1991 bin ich mit einer blutenden Hand in die benachbarte Apotheke gerannt statt zum Arzt, so groß war mein Respekt vor diesen Damen im weißen Kittel, die einem zu helfen vorgeben, während sie einen doch nur ausnehmen. Ein eigenartiges Zwischenwesen, nicht befugt zu heilen, aber doch eher als andere Händler dazu verpflichtet, sich mit dem Leid des Kunden zu identifizieren. Je nach Schwere des Falls werden einem dann ungefragt eine oder mehrere Packungen Gratis-Taschentücher in die Tüte gesteckt.
    Gestern habe ich in einem dieser Geschäfte spätabends verräterische Dinge eingekauft: »Weleda Balsamischer Melissengeist«, Acesal, Baldrian-Dispert mit Hopfen, und dazu wollte ich Johanniskraut-Kapseln. Die junge Apothekerin sah mich mitfühlend an, und wir überlegten gemeinsam, welche Dosierung die richtige wäre, es

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