Schmidt Liest Proust
geboren. Der Betrogene, der die Wahrheit wissen will, nimmt eine interessante Verhaltensweise an, denn er dreht sich auf der Türschwelle noch einmal um und stellt ganz beiläufig eine Frage. Die » geistesabwesende Miene und die gleichsam in Klammern und in der letzten Minute hingeworfene Frage « kennt man ja von Inspektor Columbo. Hätten dessen Opfer Proust gelesen, wären sie nicht darauf reingefallen.
127 . Di, 28.11., Berlin
Der Serotonin-Spiegel soll schuld sein, vor allem an den abendlichen Krisen. Um mehr davon zu verstehen, müßte man allerdings noch einmal auf die Welt kommen, dann aber mit einem Gehirn, das in der Lage ist, sich für Chemie zu interessieren. Jedenfalls scheint es ein Neurohormon zu sein, das in der »Raphe« ausgeschüttet wird, eines der Organe, die man bisher nie vermißt hatte. Wenn es eine Tablette gegen diesen Zustand gäbe, würde man sie nehmen? Vielleicht gleich auch gegen alle anderen unangenehmen Gefühle wie Neid, Angst, Ungeduld, Gier? Als Mensch, der vollständig davon befreit wäre, müßte man auf die anderen wie ein Roboter wirken. Aber ich weiß nicht, warum man sich alles Schlechte im Leben immer dadurch schönreden muß, daß es angeblich den Reiz unserer Existenz ausmacht, ich wäre lieber eine Pflanze oder ein Otto-Motor. Es ist doch wie mit Zahnschmerzen, man hat längst verstanden, was der Körper einem sagen will, man hat sogar schon einen Zahnarzttermin, also ist es doch nicht nötig, die ganze Zeit an seine Karies erinnert zu werden. Wenn Emotionen sinnlos sind, warum können sie nicht einfach aufhören?
Was alles nicht hilft:
– Die Namen der römischen Kaiser wiederholen
– Zwanzig Klimmzüge
– Baldrian-Dispert
– Rotwein
– Abitur
– Sich selbst auf einer Videoaufnahme Fußball spielen sehen
– Die neue C&A-Dessous-Kampagne
– Schokolade
– Sätze wie: »Es ist doch schön, wieder zu spüren, daß man noch Gefühle hat.«
– Einmal die Woche an ihrem Fenster vorbeijoggen
– Ein neues Handy
– Nichtraucher sein
– Proust lesen
Die Gefangene, S. 130–152
Jeden Abend bekommt er einen Gutenachtkuß von Albertine, aber Kuß ist nicht gleich Kuß: » Heute abend jedoch ließ mich ihr Kuß – in dem nichts von ihr selber lag und der mich innerlich nicht bewegte – so angstvoll, mit so heftig pochendem Herzen zurück «, daß er nach einem Vorwand sucht, sie zurückzurufen. Wird er auf diese Weise unweigerlich zum emotionalen Bettler? » [I]ch sprang aus dem Bett, als sie bereits in ihrem Zimmer war, ich ging im Korridor auf und ab, in der stillen Hoffnung, daß sie mich rufen werde « (nur ein Wahnsinniger kann solche absurden Hoffnungen hegen, sie weiß ja von nichts und selbst wenn, dann hat sie schon ihre Gründe), » ich stand reglos vor ihrer Tür, um beileibe nicht eine noch so leise Aufforderung zu überhören « (sollte eine Aufforderung ihrerseits nicht klar und deutlich geäußert werden? Sie würde schon dafür sorgen, daß er sie nicht überhört, wenn ihr wirklich etwas daran läge), » ich kehrte einen Augenblick in mein Zimmer zurück, um nachzusehen, ob meine Freundin nicht zu meinem Glück dort etwas vergessen hätte «, aber er findet nichts, und so steht er regungslos Posten vor ihrer Tür, » von Hoffnung auf ich weiß nicht was erfüllt, was jedenfalls nicht eintrat; erst lange danach kehrte ich durchfroren zurück, streckte mich unter meine Decke und weinte die ganze Nacht «.
Um solche Situationen zu vermeiden, greift er zu einer List, er lädt sie abends in sein Zimmer, wo sie sich, wie er weiß, auf sein Bett legen wird, sobald er unter einem Vorwand kurz hinausgeht. Da sie sehr schnell einzuschlafen pflegt, liegt sie bei seiner Rückkehr schlafend da, und er kann sich in ihre Arme mogeln. Sobald sie morgens » die Augen lächelnd halb geöffnet hatte, bot sie mir ihren Mund, und ehe sie noch etwas sagte, hatte ich schon seine kühle Frische gespürt, die so friedevoll war wie ein Garten, der noch schweigend ruht vor dem Erwachen des Tages. « Der aufmerksame Leser wird hier zweifelnd anmerken, daß niemandes Mund beim Erwachen eine » kühle Frische « birgt.
Wieder wird über die Natur des Schlafs nachgedacht. Daß man beim Aufwachen noch nicht weiß, wer und wo man ist. Spricht man dann ein paar vernünftige Worte zu jemandem, statt einfach das zu sagen, was einem traumbedingt noch auf den Lippen liegt, bedeutet das » die gleiche Anstrengung einer Wiederherstellung des Gleichgewichts für mich wie
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