Schmidt Liest Proust
fiel, das wie die unbekannte Stimme ihrer Lust zu mir drang «. Er sieht sie vor sich, wie sie » mit keckem Näschen, zusammengerollt wie eine mollige Katze, den Platz der Freundin von Mademoiselle Vinteuil einnahm « und ihre Stimme wollüstig girren läßt.
» Noch hing ich am Leben, dennoch wußte ich, daß ich nur Grausames weiterhin von ihm zu erwarten hätte. « Er läßt Albertine rufen und erklärt ihr, abreisen zu müssen. Eine absurde Geschichte bekommt sie zu hören, etwas von einer Hochzeit mit einer anderen, die er gerade hat platzen lassen, weswegen er sich schlecht fühle. Noch einmal wirkt Albertine als Gegengift gegen sich selbst. Zwei Gifte, » eines süß, eines quälend, kamen sie beide doch von Albertine «. Aber sie ruft in ihm » die weiche Stimmung eines Genesenden « wach. Dennoch begeht er nicht » die Unvorsichtigkeit (falls es eine solche war), die zu Gilbertes Zeiten mir unterlaufen wäre, ihr zu sagen, daß sie, Albertine, das Wesen sei, das ich liebte «. Er glaubt ja inzwischen, daß er sich damit seiner Chancen berauben würde.
Die Eifersucht auf Mademoiselle Vinteuil erweist sich als viel größere Qual als die kurze auf Saint-Loup, denn die Vinteuil » führte andere Waffen «. Mit einer Frau kann man nicht konkurrieren. Der Gedanke, Albertine könne demnächst ohne ihn in ihre Heimatstadt Triest fahren und ihren Neigungen frönen, verströmt eine » feindliche und unerklärliche « Atmosphäre, wie sie damals aus dem Eßzimmer in Combray aufgestiegen war, aus dem die Mutter nicht hochkommen wollte, um ihn noch einmal zu küssen. Die verzweifelte Liebe zur Mutter als Muster lebenslanger Verlustängste, wie verhält man sich da als Mutter richtig, wenn man dem Kind solche späteren Torturen ersparen will?
Er wird also abreisen, und die halbe Welt setzt sich in Bewegung, um diese Tatsache zu betrauern oder zu verhindern. Marie Gineste und Céleste Albaret, seine beiden Verehrerinnen, laufen » mit roten Augen umher « und lassen » das unterdrückte Schluchzen eines Gießbachs hören «. An der Bahn trifft er Monsieur Cambremer, der » beim Anblick meiner Koffer erbleichte «. Monsieur de Crécy würde ihn unweigerlich anflehen zu bleiben, wenn er ihn sähe, ebenso Madame Verdurin. Dazu » die verzweifelten Klagen des Direktors «. Dieser Mensch hinterläßt eine Spur des Begehrens, ohne auch nur einen Finger zu rühren.
5. Buch
Die Gefangene
121 . Di, 21.11., Berlin
Auch daß der Drucker sozusagen »Kanon« heißt, ist eigentlich ein gutes Zeichen.
Die Gefangene, S. 5–25
Ein neuer Band, offenbar hat sich die wirtschaftliche Lage der DDR damals verschlechtert, denn das Papier ist etwas grauer und grober geworden. Ich bin ein wenig mutlos, wenn es jetzt nur noch um Marcels Eifersucht auf Albertine geht, wäre das für mich im Moment nicht die richtige Lektüre.
Er ist zurück aus Balbec, die Mutter ist für ein paar Wochen nach Combray gefahren, und Albertine hat ein Zimmer in der Wohnung von Marcels Eltern bezogen, wo sie » jeden Abend sehr spät, bevor sie mich verließ, noch ihre Zunge in meinen Mund schob wie das tägliche Brot, eine stärkende Nahrung «. Am Morgen hört er sie schon durch die dünne Badezimmerwand, sofern er denn aufsteht: » Zu andern Malen blieb ich auch liegen und träumte, solange ich wollte, denn ich hatte angeordnet, daß niemand in mein Zimmer kommen dürfe, bevor ich geläutet hätte; das aber dauerte, weil die elektrische Klingel über meinem Bett recht unbequem angebracht war, oft so lange, daß ich, müde, nach ihr zu tasten, und ganz zufrieden, allein zu sein, fast wieder eingeschlummert noch ein paar weitere Minuten liegenblieb. « Zu faul, nach der Klingel zu tasten, die den Diener herbeiruft. Was soll ich da sagen? Ich muß mich ja sogar alleine anziehen, sogar die Socken.
Er wird immer noch nicht müde, sein Desinteresse an Albertine zu betonen, » die ich übrigens kaum noch hübsch fand, bei der ich mich langweilte und die ich im Grunde nicht mehr liebte, wie ich deutlich empfand «. Der für einen Menschen wie Marcel sicher prekäre Zustand ehelichen Zusammenlebens wird also in der Wohnung der Eltern erprobt. » Ihr etwas unbequemer Charme bestand darin, im Hause nicht eigentlich wie ein junges Mädchen, sondern eher wie ein Haustier anwesend zu sein, das in ein Zimmer eintritt und es wieder verläßt, sich überall befindet, wo es nicht erwartet wird. « Sie stört, sieht häßlich aus und ist auch noch geistig unter seinem
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