Schmidt Liest Proust
bringen. «
123 . Do, 23.11., Berlin
Es ist wieder soweit, die Bibliothek stellt schriftlich Geldforderungen. Ich hatte lange nichts mehr ausgeliehen und war froh, von diesem Joch befreit zu sein, denn ich kann nichts pünktlich zurückbringen. Ich habe deshalb in meinen Jahren als Bibliotheksnutzer schon so hohe Mahngebühren bezahlt, daß ich mir für das Geld alle ausgeliehenen Bücher hätte kaufen können. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich einmal Machwerke wie »Du hast angefangen – Nein du«, in denen absurde Wendungen wie »Du Schmarrer!« vorkommen, verlängern würde. Auch das in der Erinnerung hell leuchtende »Wie Putzi einen Pokal gewann« erwies sich bei der Revision als leistungsverherrlichend und faschistoid. Die Behauptung, daß man besser Dame spielen könne, wenn einem nicht mehr die Nase laufe, was man wiederum durch Sport und Übungen in »bewußter Muskelentspannung« erreiche, ist unsympathisch, auch wenn sie nur für Mäuse aufgestellt wird. Am Ende benutzt die Mäusemutter den von Putzi gewonnenen Pokal als Suppenschüssel, ganz wie es der praktische Sinn einer Hausfrau gebietet. Kein Wunder, daß man so geworden ist und bei den modernen Frauen auf Granit beißt.
Die Gefangene, S. 46–67
Zwei Dinge sind heute hervorzuheben, zunächst, daß die Nichte des Westenmachers Jupien den Ausdruck » einen Tee spendieren « benutzt und sich damit angeblich in peinlicher Weise kompromittiert, und dann, daß Marcel von Andrée erfährt, daß Albertine keinen Jasmingeruch mag, was damit auch geklärt wäre.
Sonst bleibt nicht viel zu sagen. Albertine ist wahrscheinlich die Frau, über die in der Geschichte der Literatur am meisten und mit dem geringsten Gewinn für die Allgemeinheit reflektiert wurde. Und wenn die Zellteilung fortschreitet, wird bald noch über wesentlich mehr Albertines zu berichten sein, denn » ich hatte eine erste Albertine gekannt, dann hatte sie sich plötzlich in eine zweite verwandelt, die gegenwärtige. Für die Verwandlung aber konnte ich einzig mich selbst verantwortlich machen «.
Sie hat übrigens sein » inquisitorisches Verlangen […], das wissen will, dennoch aber darunter leidet, daß es weiß, und gleichwohl mehr in Erfahrung zu bringen versucht « schon bemerkt und sagt ihm deshalb nicht mehr alles.
Wäre Andrée eine Alternative? Auch sie hat ihre Fehler: » Genoß ich aber eine so bedeutungslose Befriedigung wie die, mich mit behaglicher Miene zu strecken, ein Buch zu schließen und dabei zu sagen: ›Ah! ich habe eben zwei bezaubernde Stunden mit Lesen zugebracht, was für ein amüsantes Buch!‹, so riefen diese Worte […] bei Andrée eine Art von Mißbilligung, vielleicht auch einfach von nervösem Unbehagen hervor. « Kann man sich ein Zusammenleben mit einer Frau vorstellen, die ein nervöses Unbehagen erfaßt, wenn man sich einmal behaglich streckt? Da ich das bereits ausprobiert habe, kann ich sagen: Nein.
Unklares Inventar:
– Goldchevreau, Tuberose.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Was gibt es Poetischeres als Xerxes, den Sohn des Darius, wenn er mit Ruten das Meer peitschen läßt, dem seine Schiffe zum Opfer gefallen sind. «
– » Man kann im übrigen feststellen, daß die Beständigkeit einer Gewohnheit im allgemeinen im direkten Verhältnis zu ihrer Sinnlosigkeit steht. «
124 . Fr, 24.11., Berlin
Ich sehe eine Dokumentation über den Fall von Vukovar und muß die ganze Zeit denken, wie schrecklich es wäre, im Krieg auch noch Liebeskummer zu haben. Wie ein Gift wirkt die tägliche Dosis Proust im Moment, dieses mit phantasmatischer Monotonie ausagierte Psychodrama. Wenn man noch an so etwas wie die Möglichkeit von Glück zwischen zwei Menschen geglaubt hat, muß man vor Prousts Argumenten die Waffen strecken. Gibt es eine Welt, in der Proust nicht recht behält? Ist irgendein Leser hier, der mit seinem Partner glücklich ist und bestätigen kann, daß es so etwas wie reziproke Gefühle gibt?
Die Gefangene, S. 67–88
Wir freuen uns immer noch gemeinsam mit Albertine und Marcel über ihre neuen, goldenen Hausschuhe und die hübschen Morgenröcke. Je ärmer man sei, umso eher könne man sich ja auch noch freuen, weil » die Armut, großherziger als der Überfluß, den Frauen viel mehr schenkt «, nämlich das Verlangen nach Toiletten, die man gar nicht beachten würde, wenn man sie besäße.
Endlich sagt sie auch die Worte, die jeder Mann gerne hört: » Ich bin ganz entsetzt bei dem Gedanken, wie dumm ich
Weitere Kostenlose Bücher