Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
nannte der Dozent »ein Zitatkompendium«. Ich verstand ihn nicht, die Zitate sprachen doch für sich. Die Tatsache, daß ich sie ausgewählt hatte, war doch schon ein Kommentar, ich hatte schließlich etwas geleistet, wie ein Kunstsammler. Im Grunde hätte es gereicht, daß ich ihm mein Exemplar des »Arbeiters« ablieferte, und er sich durchlas, was ich angestrichen hatte, und mich entsprechend benotete. Daß ich alles für ihn abgetippt hatte, war doch nur ein Zugeständnis an die universitären Gepflogenheiten gewesen.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 48–69
    Hinter Swanns Ehe mit Odette steckt ein bißchen Erpressung wegen ihrer gemeinsamen Tochter. Immerhin hat die Ehe Odette von ihrer häufigen » abscheulichen Laune « geheilt. Trotzdem versteht niemand, warum er sie geheiratet hat, ja, warum er sie überhaupt je geliebt hat: » Zweifellos begreifen nur wenige Menschen, welchen rein subjektiven Charakter das Phänomen der Liebe besitzt und wie sie sich gern aus Elementen, die in ihrer Mehrzahl aus uns selber stammen, eine deutlich von derjenigen, die im wirklichen Leben den gleichen Namen trägt, unterschiedene Ersatzperson schafft. « Leider würdigen Frauen die Kreativität nicht, die man darauf verwendet, sich auf Grundlage ihrer Vorgaben eine angenehme Ersatzperson zu schaffen.
    Norpois liest Marcels Prosagedicht aus Combray und zeigt sich wenig angetan. Auch Bergotte hält er für schwach, vor allem, weil es » in seinen molluskenhaften Werken « keine Handlung gibt. » In einer Zeit wie der unsrigen, da die zunehmende Kompliziertheit des Daseins einem sowenig Zeit zum Lesen läßt, da die Karte Europas durchgreifende Umgestaltungen erfahren hat und vielleicht noch weiterhin erfährt, da so viele drohende neue Probleme auf allen Seiten auftauchen, werden sie mir zugeben müssen, daß man von einem Schriftsteller verlangen darf, er müsse etwas anderes als nur ein Schöngeist sein, der uns wie im späten Byzanz über müßigen Fragen der bloßen Form vergessen läßt, daß wir von einer Stunde zur andern von dem doppelten Ansturm der Barbaren überflutet werden können, derer, die von außen kommen, und der inneren. «
    Immerhin erklärt Norpois sich bereit, bei Madame Swann Marcels Namen anzubringen, ein Schritt in Richtung Gilberte. Vor Rührung küßt Marcel ihm fast die Hände, was Norpois leider nicht entgeht, Jahre später wird er es in einer Gesellschaft zum besten geben. Es ist eben nicht zu kontrollieren, was andere an einem bemerken und an welche Kleinigkeiten sie sich erinnern werden: » [I]ch war ebenso ungemein überrascht wie an dem Tage, da ich zum ersten Male in einem Buch von Maspero las, daß man noch eine genaue Liste der Jagdfreunde besitzt, die Assurbanipal sechs Jahrhunderte vor Christi Geburt zu seinen Hofjagden einlud. «
    Odette muß wissen, daß er Norpois kennt, er, » der ich am liebsten einen Stein in Swanns Fenster geworfen hätte, nur um ihn mit der Botschaft zu versehen, ich kenne den Marquis de Norpois, war ich doch überzeugt, daß eine solche Botschaft, selbst auf eine derart gewaltsame Weise übermittelt, mir bei weitem eher ein Ansehen in den Augen der Hausherrin gegeben als sie gegen mich eingenommen hätte «. Gott behüte uns vor den Verehrern unserer Töchter!
    Unklares Inventar:
    – Pudding à la Nesselrode.
    28. Mo, 14.8., Berlin, Seelower, morgens, heiter
    Familiengeschichte: Onkel P. hatte auf dem Dachboden für seine Geschwister eine »Chemie-AG« gegründet. Jetzt denkt er, daß er vielleicht schuld ist, daß zwei Brüder später beruflich mit Chemie zu tun hatten. Vierzehn Tage waren sie zum Kriegsende nach Tharandt unterwegs, wo eine Tante wohnte. Es mußte immer wer mit Essen zum Zug kommen, weil er tagelang auf dem Bahnhof stand und nicht abfuhr, man aber seinen Platz darin nicht aufgeben durfte. Meine Oma hatte in dieser Zeit einen Schlagring im Nachttisch. Das Kriegsende hat meine Tante im Bunker erlebt, wo jemand »Heidi« vorlas. Dann hieß es, es sei Frieden, und sie dachte: »Im Frieden gibt’s doch alles« und fragte sich, wie sie das so schnell anstellen wollten. Ein befreundeter Musiker sei später ins Gefängnis gekommen, weil er die Nationalhymne der DDR zu langsam gespielt habe. Alle erinnern sich an den betrunkenen Russen, der im Haus eine Scheibe einschlug und sich dabei die Hand aufschnitt. Meine Oma hat ihn verarztet. Ein herbeigerufener russischer Offizier schlug ihn gleich mehrmals nieder.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S.

Weitere Kostenlose Bücher