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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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begegnen, prüfend anzuschauen, sieht Norpois Marcel an, » als sei ich ein exotischer Brauch, ein instruktives Bauwerk oder eine Diva auf Tournee «.
    Marcel will ihm schildern, warum er früher Literat werden wollte: » [V]or Erregung zitternd, litt ich bei der Vorstellung, daß nicht jedes meiner Worte ein möglichst genaues Äquivalent dessen sei, was ich gefühlt, doch nie zu formulieren versucht hatte; daraus ergab sich natürlich, daß meine Rede ganz und gar unklar blieb. « Die Tragik der mit einem reichen Innenleben Ausgestatteten, sie stehen im Gespräch immer als Idioten da, nur weil sie sich nicht unter ihrem Niveau ausdrücken wollen. Entweder man liest nur noch ab, was man schriftlich vorformuliert hat oder man schweigt. Gut reden können doch nur die, denen ihre Gedankengänge nicht ständig die Sätze verkomplizieren.
    Norpois kennt einen jungen Mann, der auch Schreiber geworden ist, » und er sprach nunmehr von der uns gemeinsamen Neigung in dem gleichen zuversichtlichen Ton, als handle es sich um eine Veranlagung nicht für die Literatur, sondern zum Rheumatismus, und als wolle er mir dartun, daß man nicht daran stirbt «. Dieser junge Mann habe » ein Werk über das Gefühl des Unendlichen am östlichen Ufer des Victoria-Nyanza-Sees « veröffentlicht und ein anderes, » mit spitziger Feder geschriebenes über das Repetiergewehr in der bulgarischen Armee «.
    Mit dem Vater spricht Norpois über Geldanlagen. Die »Komposition« eines Effektenfonds, zu der man sich gratuliert, hat eine geradezu ästhetische Komponente. Man verfolgt Börsenwerte wie Fortsetzungsromane und spricht davon mit » nachgenießendem Lächeln «. Aber » da er andererseits selbst kolossal reich war, hielt er es für taktvoll, die noch so bescheidenen Einkünfte eines anderen beachtenswert zu finden, wobei er in Gedanken dann mit einem behaglichen Gefühl zu seinen eigenen soviel bedeutenderen zurückkehrte «. Ach, die wenigen Bekannten, die finanziell tiefer in der Tinte stecken, sie wissen gar nicht, was sie für unser behagliches Gefühl leisten!
    Der Anblick der Aktien, die der Vater hervorholt, bezaubert Marcel: » Alles, was aus einer gleichen Zeit stammt, hat eine Familienähnlichkeit; die gleichen Künstler, die die Gedichtbände einer Epoche illustrieren, werden auch von den Finanzgesellschaften beschäftigt. Und nichts erinnert mehr an alte Lieferungen von Notre-Dame de Paris oder die Werke Gérard de Nervals, wie ich sie noch an dem Schaufenster der Gemischtwarenhandlung in Combray fand, als – in ihrer vignettengeschmückten, rechteckigen, von Flußgöttern gehaltenen Umrahmung – eine Aktie, die auf den Namen der ›Gesellschaft für Wasserwirtschaft‹ ausgestellt war. «
    Was Norpois über Politik redet, kann den kleinen Marcel nicht begeistern. » Ich stellte nur fest, daß in der Politik das Wiederholen dessen, was alle Menschen denken, offenbar kein Zeichen von Mittelmäßigkeit, sondern von Überlegenheit ist. « Das ist das Problem, ein Volk, das sich keine Köpfe in die Regierung wählt, sondern Vertreter der Mehrheitsmeinung, wird irgendwann das Interesse an seiner Politik verlieren.
    Und nun läßt Norpois fallen, daß er neulich statt » beim Bankett des Außenministeriums « bei einer Madame Swann gespeist hat. Für Marcels Eltern ein kleiner Skandal. Die Mutter erschrickt, weil sie weiß, daß der Vater, der immer etwas langsamer reagiert, sich aufregen wird. » Die Unannehmlichkeiten, die ihm zustießen, wurden zunächst von ihrem Bewußtsein registriert, so wie die schlechten Nachrichten, die Frankreich betreffen, im Ausland eher bekannt werden als bei uns. « So sind sie, unsere Ehefrauen, sie kennen ihre Männer so gut, daß sie irgendwann zu ihnen sagen werden: Wolltest du nicht heute sterben?
    Verlorene Praxis:
    – Als Frau voller Hochachtung für die Beschäftigungen des Mannes schüchtern fragen kommen, ob man auftragen lassen könne.
    27. So, 13.8., Berlin, Seelower, abends
    Ich muß weniger zitieren, sonst ist es wie mit jungen Eltern, die nicht auf die Idee kommen, aus den Fotos ihrer Kinder eine Auswahl zu treffen, bevor sie sie einem zumuten. Aber es wäre zu schade, wenn gute Stellen für immer verschwinden würden, lebendig begraben, wie in meinen anderen Büchern, die ich noch nicht zu exzerpieren geschafft habe. Es ist ja fast schon so weit gekommen, daß man erleichtert ist, wenn ein paar Seiten lang nichts zu zitieren ist. Meine erste Hausarbeit zu Ernst Jüngers »Arbeiter«

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