Schmidt Liest Proust
finden. Ob die dadurch für den Kunden gewonnene Bequemlichkeit den Verkauf befördert? In einem Band gedruckt hätte auf Prousts Buch auch noch ein Werbebanner für Breitling-Uhren gepaßt. Gestern habe ich den ersten Teil abgeschlossen und Stolz und Wehmut empfunden. So lange trägt man das Buch mit sich herum, der Einband wird fleckig, der Seitenspiegel färbt sich schwarz von den Fingern, und jetzt ist man durch, stellt es weg und kann mit etwas leichterem Herzen sterben. Aber daß große Kunst sich den Grenzen der menschlichen Wahrnehmung unterordnen muß, bleibt ein Makel. Bilder dürfen so klein sein, daß man eine Brille braucht, aber ein Rasterelektronenmikroskop wäre übertrieben, Symphonien dürfen nicht länger dauern als ein Menschenleben, Bücher nicht dicker sein als hoch und in der Regel nicht höher als ein Durchschnittsmensch. Alles muß sich menschlichen Maßen anpassen. Wozu gibt es überhaupt Romananfänge und Romanenden? Jeder gute Roman ist doch Teil des großen Sphärenromans und existiert seit Erschaffung der Welt. Man kann es natürlich auch positiv sehen, Ende und Anfang eines Buchs sind prominente Orte für den Text, so wie am Ende und am Anfang des Lebens gesprochener Text besondere Aufmerksamkeit genießt. Man kann also die formale Einschränkung als inspirierende Spielregel annehmen. Zum Versteckspielen gehört ja auch, daß einer die anderen sucht, sonst würde es schnell langweilig. Und zum Romane schreiben gehört anscheinend, daß der Autor sein Buch beginnt und beendet (in der Regel danach).
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 1–28
Überraschende Umwertung: Swann wird als vulgärer Wichtigtuer dargestellt, da er sich den bescheidenen Ambitionen seiner Frau anpaßt. Immerhin gut, wenn man bei seinen Ambitionen noch Spielraum nach unten hat. » Wenn Swann sich um diese neuen Beziehungen so eifrig bemühte und sie voller Stolz aufzählte, so hielt er es wie jene bescheidenen oder großzügigen Künstler von Rang, die, wenn sie am Ende ihres Lebens sich mit Kochkunst oder ihrem Garten beschäftigen, eine naive Genugtuung empfinden, sobald man die von ihnen zubereiteten Gerichte oder ihre Blumenbeete lobt, doch hier die Kritik nicht vertragen, die sie ruhig gelten lassen, wenn es um die bedeutendsten ihrer Werke geht. « Wenn meine bedeutendsten Werke mißachtet wurden, habe ich das auch immer ruhig gelten lassen, aber wenn beim Fußball meine Mannschaftsdienlichkeit nicht gewürdigt wurde und ich beim Wählen bis zum Schluß übrigblieb, hat mich das tief gekränkt.
Doktor Cottard ist inzwischen ein hervorragender Gelehrter. » [S]eine außergewöhnliche Gehemmtheit, Schüchternheit und Liebenswürdigkeit [hatten] ihm in seiner Jugend überall verletzende Bemerkungen eingetragen «, seit er sich aber verstellt und immer eine eisige Miene aufsetzt, hat er Erfolg. Soll man sich das zu Herzen nehmen?
Marcel will nicht Botschafter werden, weil er dann später in irgendeine Hauptstadt geschickt würde, fern von Gilberte. Als Schriftsteller könnte er in Gilbertes Nähe bleiben, aber zum Schreiben hat er zwar » den lebhaften Wunsch, aber doch nicht die Kraft «. Gefährlich, so ein Beruf, der einem Muße zum Liebesdienst läßt.
Immer noch will er »die Berma« als Phädra sehen, und » das an solchen Meisterwerken haftende Prestige « in sich lebendig werden spüren. Was er sich erwartet, ist » die Begegnung mit Wahrheiten, die einer wirklicheren Welt angehörten als der, in welcher ich lebte, und deren einmal gewonnener Ertrag mir nicht durch belanglose, wenn auch vielleicht körperlich schmerzhafte Zwischenfälle meines müßigen Daseins je geraubt werden könnte «. Es ist klar, daß er aus dem Theater krank nach Hause kommen wird, trotzdem erlauben ihm die Eltern endlich den Theaterbesuch. Aber sofort bekommt er ein schlechtes Gewissen, weil er ihnen jetzt so dankbar ist, daß er fürchtet, ihnen in Zukunft Kummer zu bereiten, was ihn traurig stimmt. Außerdem ist er durch die Erlaubnis praktisch zum Vergnügen verpflichtet. Als sich der Entschluß, doch zu gehen, in ihm endlich durchsetzt, freut er sich so, » daß ich vor Vergnügen […] von einem Fuß auf den andern hüpfte «.
Die Berma ist eine echte Diva. In ihrer Nähe steht immer ein Gefäß mit heißem Wasser versteckt, auf dem sich der Bühnenstaub ablagern soll. Das ganze Theater, die Schließer, das Publikum » waren für sie nur ein zweites, sie weiter außen umhüllendes Gewand, das sie umnehmen und als einen
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