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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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mehr oder weniger guten Wärmeleiter für ihr Talent empfinden würde «. Im Theater geht Marcel zum ersten Mal auf, daß » dank einer Anordnung, die ein Symbol jeglicher Wahrnehmung ist, jeder sich im Mittelpunkt des Theaters fühlt «. Ein dreimaliges Klopfen, » das so aufregend war wie Signale vom Planeten Mars «, kündigt den Beginn der Vorstellung an. Anders als beim Rezitieren, leben Menschen » uns einen Tag ihres Lebens vor, in den ich heimlich eindringen durfte, ohne daß sie es merkten «. Eine interessante Vorstellung, daß die Figuren die Zuschauer gar nicht bemerken. Vielleicht sollte man einmal ein Stück ohne Schlußapplaus inszenieren, das so lange dauert, bis auch der letzte Zuschauer gegangen ist. Und wenn die Figuren es bemerken, nicht aber die Schauspieler?
    Aber als Zuschauer fällt es einem leider viel schwerer, die Anwesenheit der anderen Zuschauer nicht zu bemerken. Werden » diese trampelnden Rohlinge « die Berma auch respektvoll behandeln? Marcel wirft ihnen » flehende Blicke zu «.
    Und ausgerechnet in dem Moment, als die Berma endlich auftritt, ist das heutige Pensum um. Aber ohne Regeln macht das Spiel keinen Spaß.
    Unklares Inventar:
    – Die französische Schuldenkommission in Ägypten.
    Bewußtseinserweiterndes Bild:
    – Françoise bereitet ein Essen vor und geht – » so wie Michelangelo acht Monate in den Bergen von Carrara verbrachte, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Grabmal Julius’ des Zweiten auszuwählen – selbst in die Hallen, um sich das saftigste Stück Rindsfilet, die vortrefflichsten Waadtschinken und die besten Kalbsfüße zu beschaffen «.
    26. Sa, 12.8., Berlin, Seelower, morgens, heiter-bedeckt, mild-kühl
    Nach der Rückkehr bewegt man sich zu Hause wie durch die Wohnung eines Toten, in der man nichts anfassen oder durcheinanderbringen möchte. So habe ich also gelebt, vor zwei Wochen, wie konnte das passieren? Brutal, was man seinem emotionalen Apparat zumutet, eben war man noch in Odessa, wieder ein Ort, von dem man in Zukunft tagträumen wird. Die Fülle dieser Orte ist vom Gedächtnis kaum noch zu verwalten.
    Die Anstrengung, sich vor der Reise loszureißen wie bei einer Trennung. Die Belohnung dafür ist die Rückkehr, ein paar Tage in einem Zwischenreich, wie von einer Krankheit genesen, alles sehr gedämpft. So ein häßlicher Begriff wie »Weltenbummler«, der das bagatellisiert. Noch eine Antwort auf die Frage, was man im Leben macht, die einem immer wie eine Falle vorkommt: »Ich reichere Gedächtnis an.«
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 28–48
    Marcel ist enttäuscht von der Berma, weil sie mit einem » einförmigen Singsang « spricht. Ich erinnere mich an die aufgeregte Erwartung in Heiner Müllers Hamlet-Inszenierung am Deutschen Theater. Wie würde Ulrich Mühe den »Sein oder Nichtsein«-Monolog sprechen? Seit Jahren hatte man sich diesen Schauspieler als Hamlet gewünscht. Die Enttäuschung, daß er den Text nicht mit ersterbender Stimme flüsterte, sondern in einer Pfütze liegend mit geballten Fäusten monoton herausschrie.
    Wieder désir triangulaire , Marcels Bewunderung für die Berma bricht erst durch, als die anderen Zuschauer leidenschaftlich applaudieren, wir begehren nur, was andere begehren. Er klatscht, damit die Berma angefeuert wird, sich selbst zu übertreffen, » und ich gewiß sein könnte, ich habe sie an einem ihrer glanzvollsten Tage erlebt «. Ein oft beargwöhntes Phänomen bei eigenen Lesungen, das Publikum berauscht sich an sich selbst, man darf sich nichts darauf einbilden. Wie ein Dreijähriger befindet sich der Zuschauer im vorempathischen Stadium der Affektansteckung. Die Konsequenz davon sind vielleicht die Fischerchöre, wenn das Publikum einfach selber singt. Die höchste Stufe in der Karriere des Künstlers, wenn er nur noch schweigend auf der Bühne sitzen muß und die Menschen sich von selbst in Ekstase applaudieren. Marcel freut sich » an dem derben Landwein der Volksbegeisterung «. Nach der neuen Erfahrung des Theaters geht es nach Hause, » nunmehr ins Exil «.
    Dort ist heute der Marquis de Norpois eingeladen, ein ehemaliger Botschafter Frankreichs und Vertreter der Glanzzeit der Diplomatie, in der » zehn Jahre andauernde Bemühungen um die Annäherung zweier Länder – in einer Rede, einem Protokoll – durch ein schlichtes Adjektiv ausgedrückt werden «. Als Politik noch Sprache war, und man sich in der Kunst des Toasts hervortun konnte. Gewohnt, alle Menschen, die ihm

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