Schmidt Liest Proust
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» Mit Ingrimm « stellt er fest, daß er sich besser an die Gesichter des Karussellmanns und der Süßigkeitenhändlerin erinnert als an das von Gilberte, » so sind diejenigen, die ein geliebtes Wesen verloren haben, das sie niemals im Traume wiedersehen, außer sich darüber, daß sie unaufhörlich im Schlaf höchst unerfreulichen Leuten begegnen, die sie schon im Wachzustand am liebsten nicht sehen würden «.
Zum 1. Januar hat er ihr über Swanns Lebkuchenverkäufer auf den Champs-Elysées (wegen Ausschlag und » der Hartleibigkeit des Propheten « konsumiert Swann regelmäßig Lebkuchen) einen Brief zukommen lassen, darin ihre alte, kummervolle Freundschaft mit dem Ende des Jahres für erloschen erklärt und eine neue, solidere angekündigt. Offenbar ist er schon der gefährlichen Neigung zum Briefeschreiben verfallen. Weil Gilberte ihm eröffnet, ihre Eltern könnten ihn nicht leiden, schreibt er einen sechzehnseitigen Brief an Swann, in dem er ihn seiner Bewunderung versichert.
Von seinem Unglück lenkt Marcel ausgerechnet » die muffige Kühle « eines Klohäuschens ab. Der unergründliche Reiz dieses Dufts wird ihm erst am Abend klar, als ihm einfällt, daß er ihn an das Schlafzimmer seines Onkels Adolphe in Combray erinnert hatte. » Doch konnte ich nicht begreifen und hob mir für später auf, darüber nachzudenken, wieso die Erinnerung an einen so unbedeutenden Eindruck mir solches Glück geschenkt habe. « Wirklich, er eignet sich nicht zum Schriftsteller, » ein wahrhafter Rauschzustand wurde mir nicht durch eine große Idee, sondern durch Moderduft zuteil «. Er hat aus seiner Talentlosigkeit ein erfolgreiches ästhetisches Programm gemacht. Unsere Defizite sind unsere größte Ressource.
Gilberte trägt das Haar noch offen, vielleicht » weil ihre Mutter wollte, daß sie länger kindlich wirke, um selbst dadurch jünger zu scheinen «. Er bittet sie, mit ihr zum Spaß um seinen Brief an Swann zu ringen, den Gilberte mitgebracht hat, aber » in der Hitze des Spiels […] strömte genauso wie ein paar Schweißtropfen, die die Anstrengung einem entlockt, meine Lust aus mir, ohne daß ich auch nur Zeit gehabt hätte, sie richtig auszukosten «. Ejaculatio praecox auf den Champs-Elysées, nach dem Wittern von modrigem Kloduft, beim Ringen um einen verkappten Liebesbrief an den Vater der Angebeteten. Damit ist dem jungen Proust schon mehr gelungen, als mir in meiner ganzen Pubertät.
Gleich im Anschluß endlich Näheres zu Marcels Zuständen, » meine gewohnten kleinen Übel, deren beständiges Weben in meinem Innern meinen Geist nur noch so wenig berührte wie mein Blutkreislauf «. Vierzig Grad Fieber verheimlicht er, um mit Gilberte auf den Champs-Elysées »Barlauf« zu spielen, wieder zu Hause hat er eine Lungenentzündung, und das bei seinen ohnehin chronischen Erstickungsanfällen. Deren Ursache kann vielfältig sein, » innere Nervenkrämpfe «, Tuberkulose, Asthma, Lebensmittelvergiftung mit Niereninsuffizienz, chronische Bronchitis oder ein » komplexer Krankheitszustand « aus mehreren dieser Faktoren. Was von der einen Krankheit heilt, wirkt bei der anderen schädlich. Doktor Cottard erkennt als guter Diagnostiker instinktiv die richtige Ursache. » Diese geheimnisvolle Gabe schließt keineswegs eine Überlegenheit auch der anderen Bezirke des Geistes ein. « Gute Ärzte müssen nicht intelligent sein (was eigentlich ja für viele Berufe gilt). Abführmittel, Milchdiät, kein Fleisch, um durch » Anregung der Lebertätigkeit und Durchspülung der Nieren « die Bronchien zu befreien. Aber auch für die Zukunft ein Champs-Elysées-Verbot wegen der dortigen schlechten Luft. Marcel soll also Gilberte nicht mehr sehen, » und ich zwang mich, unaufhörlich ihren Namen zu wiederholen, so wie Besiegte bestrebt sind, in der Gefangenschaft ihre Muttersprache zu pflegen, um die Heimat nicht zu vergessen, die sie niemals wiedersehen werden «. Man fragt sich, warum man ein solches Bild so genießt, wo es doch eigentlich übertrieben ist. Aber gerade das macht den Reiz aus. Eigentlich ein komischer Effekt, eine Kinderliebe mit Kriegsgefangenschaft zu vergleichen, aber andererseits viel zutreffender als Genauigkeit.
29. Di, 15.8., Regionalbahn Berlin – Frankfurt/Oder
Gestern zeigte sich jemand überrascht, er hätte mir nicht zugetraut, daß ich Proust lese. Dabei dachte ich, mein Snobismus sei unübersehbar. Es wäre sicher wünschenswert, wenn einem Leistungen und Qualitäten äußerlich
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