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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Mitschüler saßen, die für sie verschwunden sind wie Kriegstote. Ich könnte jeden von ihnen mit einem persönlichen Erinnerungskonfekt beschenken, mit einem Spruch oder einer Anekdote, die ich unbewußt für ihn aufgehoben habe. Es sind allerdings völlig bedeutungslose Szenen oder zusammenhang-
lose Sätze (wobei man sich fragt, ob sie nicht doch eine Bedeutung haben, wenn das Gedächtnis sie für einen ausgewählt hat). Vielleicht liegt sie im Bildhintergrund, den man nicht mehr deutlich genug erkennt? Ich sehe, wie ein Mitschüler mir am ersten Schultag im neuen Wohngebiet auf dem Nachhauseweg seinen Pfannkuchen von der Schulspeisung schenkt. Dann beschließt er, daß wir rennen müssen, und wir rennen, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Warum habe ich mir das gemerkt? Und die Art, wie er sich dabei vornüber in den Wind warf, der durch die Lücken zwischen den Neubauten blies? Es war so einfach, Freundschaften zu schließen.
    Das Material der innen schwarz gestrichenen Preßholzschulbänke im Biologieraum, in denen man mit der Zirkelspitze Bohrungen vornahm. Das sonnenwarme Parkett in der Turnhalle. Der von der Hitze aufgeweichte Teerbelag auf dem kleinen Bunker im Maisfeld. Die Stimme der »Netten«, einer Kassiererin im Konsum, die immer bei der Arbeit redete. Das strenge Dirigieren der Klassenlehrerin, wenn wir morgens ein Lied sangen, bevor wir uns setzen durften. Die Minilikörflaschensammlung in der Schrankwand von A.s Eltern. Jeder aus der Familie durfte sich zu Geburtstagen mit Schnapszahl eine Flasche aussuchen, bei ihrem elften war ich dabei. Man rechnete sich aus, wieviele Flaschen A. im Leben noch bekommen würde und dachte: Die hat’s gut!
    Von meiner Anruferin hatte ich noch den Geruch des Credo-Parfüms in der Nase, das sie auf den Klassendiskos trug. Wir waren uns auch einig, daß die Neubau-Wohnungen jeder Familie verschieden rochen. Aber wie soll man solche Gerüche beschreiben?
    Für wen ist das noch relevant? Ich soll beim Klassentreffen etwas vorlesen, wie beim Veteranentreffen einer U-Boot-Besatzung, hoffentlich sind wir wenigstens noch vollzählig. Nicht einmal die jetzigen Bewohner unseres Viertels haben noch etwas mit uns zu tun. Wenn, dann sind die Eltern geblieben und die Kinder ausgezogen. Bei ihrem Einzug waren sie jünger als ich heute bin. Ich hatte mir nie klargemacht, daß auch meine Mitschüler aus dem Altbau stammten, wir haben nie darüber gesprochen, woher wir kamen.
    Wenn ich etwas vorlese, was ich wirklich gut finde, heulen hinterher alle oder sind beleidigt. Ich träume immer noch von dieser Klasse. Natürlich spielen wir Fußball auf dem Asphaltplatz im Hof, der inzwischen abgerissen wurde und wo jetzt ein Basketballkorb hängt. Das Scheppern des Zauns sagte einem, daß unten jemand spielte. Vielleicht sollten wir einfach wieder dorthin ziehen und weiter zusammen Fußball spielen. Ich dachte damals immer, daß ich ein unschlagbares Team aus den Jungs im Viertel zusammenstellen könnte. Einer der Kleinen spielte später beim 1. FC Union. Die Autorität, die einem damals zwei Jahre Altersunterschied verschafften, ist allerdings längst aufgebraucht.
    Was haben die Mädchen eigentlich in den langen Nachmittagsstunden gemacht, wenn wir Fußball spielten? Mit irgend etwas müssen sie sich doch beschäftigt haben? Manchmal sah man sie am Horizont in bunten Kleidern vorüberhuschen, aber wohin gingen sie?
    Die wiedergefundene Zeit, S. 247–267
    Die einzigartige Macht der Erinnerung, ohne die man nichts ist. » Meine Person von heute ist nur ein aufgelassener Steinbruch, dem selber alles, was er enthält, untereinander gleich und monoton erscheint, während aus ihm jede Erinnerung gleich einem Bildhauer Griechenlands unzählige Statuen zieht. «
    Man soll die Orte nicht aufsuchen und auch die alten Bücher nicht wieder in die Hand nehmen, weil » solche vom Geiste hinterlassenen Bilder vom Geiste ausgelöscht werden. Den alten schiebt er neue unter, die nicht mehr die gleiche Macht der Wiederauferweckung haben «.
    Was ist, wenn das Kunstwerk sich so verfeinert, daß der Arbeiter es nicht mehr versteht, sondern nur noch der » Müßiggänger «, der die Zeit dafür hat? Alles Unsinn, sagt Proust, er hat » genügend mit Damen und Herren der Gesellschaft verkehrt, um zu wissen, daß sie die wahrhaft Ungebildeten sind und nicht die Elektrizitätsarbeiter «. Ein bemerkenswerter Optimismus! Es » langweilen volkstümliche Bücher die Leute aus dem Volke ebensosehr, wie sich

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