Schmidt Liest Proust
leben, der auf solch eine Tätigkeit nicht eifersüchtig ist, aber welches Maß an Souveränität gehört dazu?
Das Glück hat überhaupt nur einen nützlichen Zweck, » das Unglück möglich zu machen «, dessen Grausamkeit einen sonst » fruchtlos treffen « würde. Proust hält zur Eile an, denn angeblich sind die Leiden flüchtig, und man müsse sich schnell an die Arbeit machen, um seinen Vorteil daraus zu ziehen. Denn es ist nur das Leiden, das » das Unkraut der Gewohnheit, der Skepsis, des Leichtsinns, der Gleichgültigkeit ausrottet «. Diese Leidensepisoden sind am Ende auch verantwortlich für » jene furchtbar verwüsteten Gesichter wie die des alten Rembrandt, des alten Beethoven «.
Sicher hätte Marcel sich mehr dem geistvollen Elstir widmen können, aber stattdessen hat er Albertine in die Wohnung gelassen, die sein Leben und sein Zimmer durcheinander gebracht hat, weil er natürlich genau gespürt hat, daß er als Autor ein Schicksal brauchte. » Dadurch, daß ich meine Zeit mit ihr vergeudete und sie mir Kummer bereitete, war mir Albertine vielleicht selbst in literarischer Hinsicht nützlicher gewesen als ein Sekretär, der meine Papiere in Ordnung gehalten hätte. «
Eigentlich dürfte man diese Seiten Frauen nicht zu lesen geben. Wie kann sich sonst jemals wieder eine in einen Schriftsteller verlieben?
Und wie sein Leben eine einzige Abfolge von Zufällen war, an deren Anfang Swann stand! Swann lenkte ihn nach Balbec, dort kam Albertine, die Großmutter traf Madame de Villeparisis wieder, das führte ihn zu den Guermantes, Saint-Loup und Charlus. Jetzt steht er in der Bibliothek des Prinzen von Guermantes und ihn überfällt ganz plötzlich die Vision seines Werks. Ein wenig bedauert er sofort die vielen anderen Bilder, mit denen er sein Gedächtnis nicht hat anreichern können, weil er nunmal dieses Leben geführt hat und kein anderes.
Unklares Inventar:
– Artesischer Brunnen, Cythere, Roques, Sarrail.
Verlorene Praxis:
– Ein rein körperlich lebender Mensch und beglückt über Sport sein, vergossenen Schweiß und Bäder.
– Ansehen müssen, wie die Schönheit ihren Sitz auf die mützengekrönte Stirn eines Omnibusschaffners verlegt.
175 . Sa, 20.1., Berlin
Man sollte sich nicht zu sehr auf etwas freuen. Das heutige Fußballspiel mit der Autorenmannschaft hat mich eine Woche lang motiviert, aber das Spiel war schrecklich, mein Fußgelenk ist seit sieben Wochen entzündet, ich müßte wohl einmal länger aussetzen oder wie Sebastian Deisler gleich die Konsequenzen ziehen und meinen Rücktritt erklären, wenn Fußball zur Qual wird, wie er es ausgedrückt hat.
Jetzt ist die Laune schwarz, wobei ich mich frage, ob es sein kann, daß ich ein emotionales Wellental erreicht habe, denn dann hätte ich ja vorher etwas von einem Hoch bemerken müssen. Oder war das Hoch schon die gestrige Lesung im »Admiralspalast«? Kann ich mich nur noch bei Auftritten besser fühlen? Aber es war natürlich sehr intensiv. Hinterher hat mich eine Zuschauerin daran erinnert, daß die Frau in Schnitzlers »Traumnovelle« Albertine heißt. Dafür wußte ich, daß die Donau in der Nähe ihrer Heimatstadt Villingen entspringt, wir hatten nämlich auch zwei Stunden BRD im Geographie-Unterricht. Mir kam die Idee, einen Text darüber zu schreiben, daß ich noch nie paddeln war, obwohl ich mir einmal eine wasserfeste Wasserwanderkarte für die DDR gekauft und im Atlas schon eine durchgehende Strecke nach Masuren herausgesucht hatte, aber meine damalige Freundin hatte Angst vor Mücken. Ich habe weiter an meiner Studie »Weibliches Geheimwissen« gearbeitet und von drei Zuschauerinnen erfahren, daß Tomaten Äpfel schneller reifen lassen. Damit ergibt sich eine interessante Kette, da ja, wie ich inzwischen weiß, Äpfel Avocados schneller reifen lassen. Wenn man jetzt Avocados züchten würde, die Tomaten schneller reifen lassen, hätte man ein Perpetuum mobile. Jemand sagte, »in dem Punkt bin ich altmodisch«, weil er, wenn seine Freundin ihn für einen anderen verlassen würde, sie und sich erschießen würde. Aber dann war es nur eine Szene aus einem französischen Film mit … Romy Schneider! Während ich diese Gespräche führte, kam mir die Idee für einen »Chaussee«-Text über die richtige lateinische Betonung, der so anfangen könnte: »Warum lernst du Latein?« »Ich brauch das für mein Ego«. Wobei »Ego« korrekt, also mit kurzem »e« auszusprechen wäre, einen Moment lang fand ich das sehr
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