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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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hat Marcel im Sanatorium verbracht, nun kehrt er zurück nach Paris. Wieder einmal ereilt ihn » die Vorstellung meines Mangels an literarischer Begabung «, weil er vom Zug aus so ganz teilnahmslos eine reizvoll im Licht stehende Baumreihe sieht, zu deren Beachtung er sich erst anhalten muß. Früher hätte er das Bedürfnis verspürt, sie irgendwie lyrisch zu feiern, das hat er nicht mehr, weil es ihm ja auch nie gelungen ist. Und wenn man statt der Natur die Menschen beobachten würde? Dafür braucht man ja keine Inspiration, man kann einfach mitschreiben, was sie tun. Wozu hat er sich so lange von der Gesellschaft zurückgezogen, wenn es ihn nicht zum Künstler gemacht hat? Warum soll er nicht wieder auf Empfänge gehen, wenn er doch mit der Arbeit ohnehin nie beginnen wird? Die Einladungen treffen ja immer noch ein.
    Unterwegs zu einer Soiree des Prinzen von Guermantes erreicht er im Wagen die Champs-Elysées. Dort ist er auf vertrautem Gelände und hat das Gefühl » eines Wegfalls von äußeren Hindernissen «. Er bewegt sich direkt durch » eine gleitende, traurige, weiche Vergangenheit «. Diese besteht » aus so vielen verschiedenen Vergangenheiten «, daß er in sich nachforschen muß, welche dieser Erinnerungsschichten für seine momentane Schwermut verantwortlich ist. Die täglichen Gänge, die dem Zweck dienten, Gilberte zu begegnen? Die Nähe eines Hauses, in das Albertine sich mit Andrée begeben hatte? Die Straße, in der er immer die Plakate zu den Stücken der Berma gesucht hat?
    In einer Kutsche sitzt ein Mann mit weißem Haar und langem weißen Bart, es ist Charlus, der sich nach einem Schlaganfall aufrecht zu halten bemüht, » wie ein Kind, das man zum Bravsein ermahnt hat «. Sein Snobismus überlebt in der übertriebenen Anstrengung, mit der er Madame de Saint-Euverte grüßt, die doch immer unter seinem Niveau war. Wie grausam, irgendwann von den Jüngeren als solch ein fossiles Phänomen beschrieben zu werden. Er spricht sehr leise, hat aber seinen Geist noch beisammen und zählt genußvoll die Angehörigen seiner Familie und seiner Kreise auf, die vor ihm gestorben sind. Kaum läßt Jupien ihn einen Moment allein, ist er schon wieder im Gespräch mit einem Gärtnerburschen. Im übrigen hat er es, selbst als zeitweise Erblindeter, immer noch geschafft, auf irgendeine Art die attraktiven Hotelbediensteten herauszukennen.
    Wie so oft in diesem Buch entwickeln sich die Dinge durch einen kleinen Unfall. Im Hof vom Palais muß Marcel einem Wagen ausweichen und tritt dabei auf zwei unterschiedlich hohe Pflastersteine. Balancierend empfindet er das gleiche Glück wie bei seinen anderen Madeleines. Die Empfindung scheint zu ihm zu sagen: » Hasche mich, wenn du die Kraft in dir hast, und versuche das Rätsel des Glücks, das ich dir aufgebe, zu lösen. « In dem Fall gelingt es ihm, die Quelle ausfindig zu machen: Es ist Venedig, wo er im Baptisterium von San Marco schon einmal auf zwei unebenen Bodenplatten gestanden hat. Mit dieser Empfindung kommen auch alle » an jenem Tage mit dieser einen verknüpften Empfindungen « zurück. Die Bilder schenken ihm eine Freude, die selbst dem Tod seinen Schrecken nimmt.
    Kurz darauf überfluten ihn » Empfindungen von großer Wärme «, als ein Diener mit einem Löffel gegen einen Teller schlägt. Das Geräusch erinnert ihn an das Hämmern eines Bahnarbeiters auf der ersten Fahrt nach Balbec. Er fühlt sich weniger mutlos. Auch als er sich den Mund mit der Serviette abwischt, denn sie hat » genau die Art von Steifheit und den Stärkegehalt des Handtuchs, mit dem ich mich am ersten Tage meiner Ankunft in Balbec mit solcher Mühe am Fenster abgetrocknet hatte «. Er genießt den vergangenen Augenblick, den er damals nicht genießen konnte, weil ihn in Balbec » irgendein Gefühl der Müdigkeit oder der Trauer « daran gehindert hatte. Nunmehr ist er von allem befreit, » was es an Unzulänglichem in der äußeren Wahrnehmung gibt, die rein und vom Stoff entschlackt, mich mit Beschwingtheit erfüllte «.
    Die beängstigende Aussicht, nie etwas Unmittelbares empfinden zu können, sondern dazu verurteilt zu sein, immer auf die Erinnerung warten zu müssen. Aber ist es nicht immer so gewesen? Das muß man wissen, damit man sich nicht ständig gegenseitig eine übertriebene Emphase abverlangt, wo die Empfindungen sich später umso intensiver einstellen werden, sobald das Gedächtnis seine Arbeit aufgenommen hat.
    Überraschend wiederauferstanden:
    – Die

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