Schmidt Liest Proust
Gedächtnisbildern.
Sonstige Vergnügungen, wie große Gesellschaften oder Freundschaft, sind nur Täuschung. Wer mit Freunden redet, erliegt dem Irrtum eines Narren, » der etwa glauben würde, die Möbel könnten leben und mit ihm sprechen «.
Und wie klammert man sich an » die Betrachtung der Essenz der Dinge «, wozu er jetzt schon entschlossen ist? Es habe keinen Sinn, die Erinnerungsorte wieder aufzusuchen, die Eindrücke würden dort eher verlorengehen. » Die einzige Art, sie nachhaltiger zu genießen, bestand in dem Versuch, sie vollständiger da zu erkennen, wo sie sich befanden, das heißt in mir selbst. « Soll man sich dann vorstellen, daß die jahrelange Klausur in seinem Zimmer für Proust gar kein Opfer war, das er für sein Werk erbracht hat, sondern die intensivste Existenzform und das dabei entstandene Werk nur ein Abfallprodukt?
Nur das Lesen des Buchs in unserem Innern ist ein Schöpfungsakt, und was die Autoren in ihren Programmen formulieren, wenn sie Kriegen, Arbeitskämpfen oder Naturkatastrophen hinterherschreiben, aus dem unsouveränen Bedürfnis heraus, den vermeintlichen Elfenbeinturm zu verlassen, sind Ausflüchte, » um nur jenes Buch nicht entziffern zu müssen «. Wir sind dem Kunstwerk gegenüber keineswegs frei, da es » in uns bereits präexistiert «. Einen künstlerischen Sinn besitzen diejenigen, die » bereit sind, sich der inneren Wirklichkeit zu unterwerfen «. Genie heißt, sich vom Instinkt leiten zu lassen. » Der Instinkt diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, um sich ihr zu entziehen. « Wenn man sich vornimmt, auf seinen Instinkt zu lauschen, wird die Kunst » das Wirklichste, was es gibt, die strengste Schule des Lebens und das wahre jüngste Gericht «.
Im übrigen habe seine Mutter früher die falschen Bücher geschätzt, » bevor sie langsam ihren literarischen Geschmack nach dem meinen bildete «. Es ist doch schön, wenn man Kinder hat, die sich nicht zu schade sind, einen auf ihr Niveau hinaufzuziehen.
Unklares Inventar:
– Perkalvorhang.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Denn die wahren Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat. «
173 . Do, 18.1., Berlin, Warschauer Straße, Firstbase-Internet, Orkanböen
Meine Mutter rief an und wollte wissen, wo ich im August sein werde, als könnte ich in die Zukunft sehen. Orkanwarnung für Berlin. Zum Mittag brennt mir der Haloumi an, aber ich esse ihn trotzdem, weil nichts anderes da ist. Auf der Straße ein Mann mit Malerrolle, der aussieht, als würde er zum Fasching als Tonmann gehen. Mit dem Fahrrad zur Uni, noch ist es ganz windstill, wie wenig ich an Katastrophen glaube, selbst wenn sie von Experten prognostiziert werden. Latein: Es heißt eigentlich »Videothek«, nicht »Viedeothek«. Warum habe ich überhaupt Spanisch gelernt, wo es doch nur verkorkstes Latein ist? Unterwegs zur »Chaussee« starker Regen auf der Frankfurter Allee. Mein Regenüberzug funktioniert wie ein Segel, aber in die falsche Richtung. Die Hosenbeine sind durchgeweicht. Wegen wassergefüllter Spurrillen, in die mich die Busse drängen, sind auch die Schuhe klitschnaß. Wenn sie mich so sehen könnte, würde sie mich vielleicht aus Rührung lieben. Im Internet-Café ganz allein, der Wind reißt die Türen auf. Korrigiere meinen Proust-Eintrag, während der Betreiber höllisch laut Death Metal hört, als könnte die Welt nicht untergehen, solange solche Musik läuft.
Gestern rief eine frühere Mitschülerin an, die Stimme sagte mir nichts, aber mein altes Viertel habe ich aus der Berliner Diktion herausgehört. Es wird also in diesem Jahr unser erstes Klassentreffen geben. Ich habe Angst davor, die anderen nicht zu erkennen und vor allem, selbst nicht erkannt zu werden, wo ich mich doch innerlich überhaupt nicht verändert habe.
Ich hatte nicht geahnt, wie wenig man von den Mädchen wußte, obwohl man jeden Tag zusammen war! Weder, daß der Sportlehrer als attraktiv galt, noch, daß alle auf diesen einen Mitschüler scharf gewesen sind. Der Sportlehrer war doch ein Lehrer und der Mitschüler spielte keinen Fußball! Ich staune auch immer, wieviel andere vergessen haben. Ist mein Gedächtnis für diese Zeit wirklich besonders ausgeprägt? Aber vielleicht bildet sich meine Identität ja durch das, was die anderen vergessen haben, weil wir sonst alle gleich wären?
Manche erinnern sich an komplette Klassenfahrten nicht mehr. Im Geist gehen sie die leeren Stellen in den Bankreihen ab, wo
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