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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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natürlich der Betrunkene und die schöne Braut, und man ist tief bewegt über die Ironie des Schicksals. Hatte der Eifersüchtige schon vor den beiden geahnt, was in ihnen vorging? Oder hat er es durch sein hysterisches Verhalten provoziert? Ach, Liebespaare, ihr seid so öde in eurem vorhersehbaren Glück, die eigentlichen Helden sind die Betrogenen, und zwar die, denen niemand aus dem Publikum etwas gönnen würde!
    Neue Geschäftsidee: Ich könnte mein Geld damit verdienen, aus dem Bild zu gehen, wenn jemand für ein Foto freie Sicht braucht.
    Die wiedergefundene Zeit, S. 267–287
    Das heikle Verhältnis von Leben und Werk, Modell und Figur. » Selbst noch die – in ihren Gebärden, ihren Reden, ihren unwillkürlich ausgedrückten Gefühlen – einfältigsten Menschen künden Gesetze, die sie selbst nicht erkennen, die aber der Künstler an ihnen erspäht. « Nur, daß niemand sich gerne ausspähen und zum Gegenstand eines Werks machen läßt. Die wenigsten teilen ja die abstrakte Haltung des Autors zum Material. Wenn ich eine Peinlichkeit beschreibe, die jemandem passiert ist oder mir zu einer Person eine Sehnsucht denke, von der niemand wissen darf, setze ich mich dem Vorwurf aus, mein Umfeld auszunutzen. Dabei sind das nur Beispiele, die für etwas Allgemeines stehen. » Wegen dieser Art des Beobachtens hält die rohe Masse den Schriftsteller für boshaft, sie hält ihn aber zu Unrecht dafür, denn in einer Lächerlichkeit erkennt der Künstler einen schönen allgemeingültigen Zug, er legt ihn der beobachteten Person ebensowenig zur Last, wie der Chirurg sie deswegen geringschätzen würde, weil sie an einer ziemlich häufig auftretenden Form von Kreislaufstörung leidet. « Der Autor mokiert sich in Wahrheit sogar viel weniger als andere über solche Lächerlichkeiten, er wertet sie ja nur danach, ob sie als Material taugen. Jede Art, auf die jemand im Werk vorkommt, ist eine Hommage, die einzige Beleidigung wäre, nicht vorzukommen.
    Und auch, was uns zustößt, lernen wir abstrakt und als Material zu sehen. Noch wenn eine Frau ihm Leiden verursacht, stehe sie » dem Schriftsteller nur Modell «. Sie » sitzt « ihm sozusagen für ein bestimmtes Gefühl, das er studieren will. Aus diesem Verhältnis zur Wirklichkeit (hat man es sich frühzeitig antrainiert oder war man schon immer dazu verdammt?) resultiert natürlich eine tiefe Trauer, weil man seine intensivste Beziehung zu den Dingen und Menschen erst hat, wenn man sie zu Spielzeugen oder Modellen machen kann. (Und das betrifft nicht nur die Künstler, Proust lehrt ja, daß Entfremdung eine allgemeine, menschliche Eigenschaft ist, nur daß sie vom Autor radikal offengelegt wird, während die meisten Menschen andere Wege des Trosts beschreiten. Dem unmittelbaren Empfinden und dem Rausch laufen wir doch alle hinterher.) Autor und Leser sitzen im selben Boot. » In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. «
    Die Liebe verführt einen zeitweise dazu, diesem Mechanismus entkommen zu wollen. Vielleicht infiziert man sich mit ihr gerade in Zeiten kreativer Zweifel. Goethe war in der Lage (oder dazu verurteilt), sich bis ins hohe Alter immer wieder in der für seine Seelenruhe gefährlichsten Weise zu verlieben. Andererseits hat er krank im Bett gelegen, während seine Frau Christiane allein gelassen einen tagelangen, qualvollen Tod starb. Statt sie zu besuchen, hat er in dieser Zeit Tagebuch über ihr Sterben und seine Stimmung geführt. Hinterher hat er ihr ein Gedicht gewidmet: »Du versuchst, o Sonne, vergebens / Durch die düsteren Wolken zu scheinen! / Der ganze Gewinn meines Lebens / Ist, ihren Verlust zu beweinen.« Ist das nun rührend oder erbärmlich?
    Es kommt dann zu diesen beunruhigenden Momenten, da man bei der Arbeit, wenn man also einen erlittenen Schlag detailliert zu beschreiben versucht, » mit dem Mut des Arztes, der immer wieder an sich selbst die gefährliche Spritze erprobt «, um das Allgemeingültige daran herauszuarbeiten und sich durch diese » Gymnastik « dagegen » immun « zu machen, erleben muß, » wie das geliebte Wesen sich in einer umfassenderen Wirklichkeit verliert, daß man es über der Arbeit schließlich für Augenblicke vergißt «. Man kann vielleicht nur mit einem Menschen

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